Seltsame Dinge tragen sich zu im Königlichen Hospital für Frauen und Kinder: Sieben Kinder, die vor einigen Tagen aus dem Nichts aufgetaucht waren und seitdem nicht ansprechbar sind, erheben sich jede Nacht aus ihren Betten, wandern aufs Dach und stimmen dort choralartige Gesänge an. Institutsleiter Amilcar Ziehfuss weiß sich offenbar keinen anderen Rat mehr, als das Öffentliche Ministerium für Privatangelegenheiten um Hilfe zu rufen. Der erste Vertreter, den man entsendet, verschwindet bei den Ermittlungen spurlos. Um Licht ins Dunkel zu bringen, bietet Minister Pomerol deshalb die beiden Top-Agenten Kasimir Duprey und Artemis Harcourt auf, die das Rätsel der schlafwandelnden Kinder entschlüsseln sollen. Die beiden werden nicht gerade mit offenen Armen empfangen: Geben sich Ziehfuss und die Krankenschwester Wilma schon nicht sonderlich kooperativ, beäugt vor allem der Therapieleiter Doktor Rufus Mortemanus die Neuankömmlinge unverhohlen mit Misstrauen und behindert die Ermittlungen.
Immerhin will der Psychologe die mysteriösen Vorgänge als Karrieresprungbrett nutzen: Mit allerlei Aufzeichnungsapparaten, darunter Bild-, Ton- und Energetik-Rekorder, will er die Darbietungen analysieren und die Ergebnisse sodann bei der Akademie der Medizin vorstellen. Aber das Ermittlerduo lässt sich nicht so leicht abschütteln. Heimlich dringt Artemis ins Sprechzimmer des Doktors ein und reißt sich vertrauliche Unterlagen unter den Nagel. Daraus geht hervor, dass jede Menge Anstaltspersonal verschwunden ist – und dass die Kinder allesamt aus unterschiedlichen Städten stammen und sich allnächtlich in genau der Anordnung aufstellen, in der auch ihre Herkunftsorte zueinander liegen. Die Choräle kommen Duprey darüber hinaus entfernt bekannt vor – Grund genug, die Waldlichtung aufzusuchen, auf der die Kinder orientierungslos aufgefunden wurden. Dort herrscht eine durchaus bedrohliche Atmosphäre, Artemis leidet unter furchterregenden Visionen, in denen die Bäume die Kinder angreifen, und Duprey findet an den Bäumen Rückstände von Blut…Pierre Boisserie („Roma“) wirft in dieser abgeschlossenen Geschichte gleich mehrere Motive in einen Topf: Da ermittelt ein Agentenpärchen, das in seinen scharfen Dialogen und forscher Manier wie weiland Mulder und Scully in bester Mystery-Thriller-Art auf einen geheimnisvollen Fall angesetzt werden, wobei Artemis Harcourt sowohl in Charakter als auch Optik eine entfernte Schwester von Lara Croft sein könnte. Das Ganze verlagert Boisserie allerdings in ein vage viktorianisches Setting, in dem sich sämtliche Zutaten eines ordentlichen Hammer-Films der 50er oder 60er wiederfinden, komplett mit Haunted House, verwunschenem Wald, besessenen Kindern (wir denken an „Village of the Damned“ und natürlich „Childen of the Damned“) und einem Mad Scientist an der Spitze, der vom obligatorischen Faktotum unterstützt wird.
Gewürzt wird das Ganze noch mit einer Prise Steampunk, insbesondere in den anachronistisch-technischen Methoden des Doktor Mortemanus (nomen est omen!), der auch direkt aus einschlägigen Genre-Serien wie „Lady Mechanika“ entsprungen sein könnte. Dazu gesellen sich dann noch wohlige Anklänge an den guten alten Mr. Lovecraft (die alten Götter lassen grüßen!) und ein ordentlicher Plot Twist, in dem sich mancher Protagonist deutlich anders entpuppt, als eingangs zu vermuten. Gezeichnet von Nicolas Bara im eher funny-artigen typisch franko-belgischen Stil, entwickelt sich eine fast schon täuschend harmonische Optik, die die Abgründe der Story nur umso besser zur Geltung bringt, teilweise aber auch in beklemmend-albtraumhafte, oft auch ganzseitige Sequenzen umschlägt. Ein atmosphärisch dichter Band, der wohliges Gruseln verspricht – und liefert!
Dieser Text erschienen zuerst auf Comicleser.de.
Holger Bachmann ist Autor diverser Bücher und Aufsätze zur Film- und Literaturgeschichte. Neben dem Comicleser.de schreibt er auf kühleszeug.de über Konzerte und geistvolle Getränke.