Kann Architektur einen Menschen verschlucken? In der Therme von Vals scheint das der Fall zu sein, denn der Architekt Peter Zumthor hat die schlichten steingrauen Wände dort so geschickt arrangiert, dass sie sich im Spiel unterschiedlicher Blickwinkel immer neu gegeneinander verschieben. Menschen, die gerade noch zu sehen waren, verschwinden, sobald der Betrachter ein paar Schritte geht. Das schafft eine ungeheuer intime Atmosphäre. Doch im Comic ist hier tatsächlich ein Mensch verschwunden: Der Architekturstudent Pierre wollte dem ästhetischen Geheimnis der Therme auf den Grund gehen – und ist nie wieder aufgetaucht.
„Ehe ich anfing, mich mit der Therme in Vals im schweizerischen Kanton Graubünden zu beschäftigen, hatte mein Vater ein paar Mal von Pierre erzählt. Pierre war damals einer seiner Studenten gewesen, seine Abschlussarbeit schrieb er über die Therme, den berühmten Bau des Schweizer Architekten Peter Zumthor. Mein Vater sprach nicht zuletzt gerne über die Therme, weil er wusste, dass ich mich für dessen Bau interessierte, seit wir zusammen dort gewesen waren.“
Der Sohn des Professors wird im Comic rekonstruieren, was passiert sein muss. Dabei hilft ihm das Notizbuch von Pierre, das beim Professor per Post ankam. Darin steht zum Beispiel, wie Pierre Philipe Valeret im Hotel begegnet, eine Architektur-Koryphäe, dessen Bücher über Kurorte er alle gelesen hat. Und war dieser Valerert nicht auch derjenige, der seinen Sportwagen so eng hinter einer Passkurve abgestellt hatte, dass es fast einen Unfall gab? Pierre erinnert sich sofort daran, Philipe Valeret nicht.
„Sind wir uns schon mal begegnet?“
Pierre wird die Situation nicht aufklären. Und auch im Comic scheinen viele Handlungsstränge ins Leere zu laufen. Warum ist Valeret hinter Pierres Notizbuch her? Gibt es vielleicht noch jemanden, der dieses Notizbuch klauen will? Und warum fällt Pierre bei einer nächtlichen Recherche in der Therme in Ohnmacht und liegt plötzlich nackt in den verschneiten Bergen? Der intimen Thermalbad-Atmosphäre in gedeckten Farben setzt Harari hier ein wuchtig-frisches Bergpanorama entgegen, das eine ganze Doppelseite einnimmt. In den Bergen erzählt ihm ein alter Kauz, wie schon mal einer vom Fels verschluckt wurde, damals, während des Ersten Weltkriegs kamen immer wieder Deserteure ins Dorf, das für seine heißen Quellen berühmt war. Einen dieser Deserteure hat der alte Kauz verschwinden sehen.„Wie erstarrt blieb ich stehen und traute meinen jungen Augen nicht mehr. Unter schrecklichem Getöse fing der Boden an zu beben. Steine fielen von den Felswänden und zerschellten in dicken Staubwolken. Als der Staub sich verzogen hatte, war von dem Fremden nichts mehr zu sehen.“
Sind die Steine lebendig? Oder ist es die Architektur, die Steine lebendig werden lassen kann? Lucas Harari lässt diese Frage offen und arrangiert die Handlungsstränge so geschickt, dass die Betrachter sie – ähnlich wie in einem Film von David Lynch – immer wieder neu miteinander verknüpfen können und so ganz unterschiedliche Deutungen möglich sind. Die Hauptrolle dabei spielt immer die Architektur der Therme – die so perfekt inszeniert wird, dass man meint, das Wasser rieseln zu hören: Die menschenleeren Becken liegen träge da und werden doch von ganz feinen Wellen durchzogen, die Reflexionen des Wassers flirren über die schlichten Wände. Ein Ort, der ziemlich unheimlich werden kann.
„Nun Pierre, Sie sind mir natürlich aufgefallen mit Ihrem mysteriösen Gehabe, Ihren Theorien, Ihren Zeichnungen und den nächtlichen Spaziergängen. Wir wissen beide, dass dieses Gebäude ein Geheimnis birgt… Aber aus mir unerfindlichen Gründen komme ich nicht dahinter, während es sich Ihnen offenbart hat.“
Noch nie wurde Architektur im Comic so spannend inszeniert, wie es Lucas Harari mit „Der Magnet“ getan hat.
Dieser Text erschien zuerst auf: Deutschlandfunk.
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.