Es gibt großartige, meistens amerikanische Romane über das, was man so „Teenage Angst“ nennt. Dazu zählt nicht nur das Gefühl, aus der Geborgenheit der Kindheit heraus zu müssen, die Liebe zu entdecken, dem Tod zu begegnen, zu bemerken, wie allein man sein kann, und dass man vielleicht verdammt schlecht von einem Trip wieder herunter kommt. Es sind auch die Kleinigkeiten der Ungleichzeitigkeit, die Dinge, die plötzlich einen anderen Sinn bekommen, die Geschichten, die sich nicht mehr von selber zu Ende erzählen und schon gar nicht von anderen zu Ende erzählt werden, wie die von dem Jungen, der am Montagmorgen mit einer Matratze in den Wald geht, einfach so, die Spiele, die plötzlich wirklich keinen Spaß mehr machen, die fixe Idee, man wäre nicht in einem Leben, sondern in einem Film – oder in einem Comic.
Zum Beispiel in „Vakuum“ von Lukas Jüliger. Man könnte die Geschichte so erzählen: Es ist der Beginn des Sommers, die Stadt ist langweilig, und die Schule erst recht. Sport macht keinen Spaß, und nebenbei muss man sich von den letzten Dingen der Kindheit verabschieden. Man lernt ein Mädchen kennen, was sehr gut ist, auch wenn das Mädchen ein paar sehr eigenartige Angewohnheiten hat. Und man verliert einen Freund, was nicht so gut ist, auch wenn einen dieser Freund fortan als merkwürdiger Geist und Scout begleitet. Und vielleicht ist das Ende ein School-Shooting mit vielen Toten. Aber so erzählt Lukas Jüligers großer Debüt-Comic „Vakuum“ die Geschichte natürlich nicht.Er kriecht von den Rändern langsam in das Zentrum der Teenage Angst. Er gibt dem Abschied vom letzten Sommer eine magische Dramaturgie. Er baut Szenen von immenser Dichte neben Bildern von betörender nächtlicher Vagheit. Natürlich gibt es die Modellsituationen, die wir kennen. Die Übersensibilität und die Ignoranz, das Verlassenwerden, der Tod eines Jungen, das Abdriften eines Freundes in Wahn und Isolation, die Liebe, der Sex. Aber darauf kommt es nicht an. Das alles ist eingebettet in einen konstanten Fluss zwischen Alltag und Traumwelt.
Ziemlich sanft schleicht sich das Grauen in die Kleinstadt. Die Erwachsenen, Eltern, Lehrer kommen allenfalls am Rande vor; der Angestellte in der Morgue will sich nicht fotografieren lassen. „Vakuum“ handelt nicht davon, wie man in eine Welt hineinwächst, sondern wie man aus ihr hinausgleitet.
Jüligers Zeichenstil ist zugleich naiv und akribisch. Er ist wunderbar genau, wo es um eine Reihenhausküche, eine leere morgendliche Straße, den Ennui von langen Schulkorridoren geht; er ist durchaus magisch in der Schilderung von Räumen der abenteuerlichen Verlorenheit, dem Parkplatz in der Nacht, dem Wald, dem leeren Dachboden. Und in den reduzierten, etwas in die Länge gezogenen Bildern von Menschen schafft er einen perfekten Übergang zwischen dem Karikaturhaften und dem Realen. Das Überwältigende aber ist die Stimmung: Ein wenig David Lynch, etwas Gus van Sant, viel spätromantisches Zeichenwerk mit einer ebenso zurückhaltenden wie genauen pastellkreidigen Farbgebung. Die Dialoge sind von reduzierter Poesie, der Erzähler selbst ist oft wunderbar klar und im nächsten Moment genauso wunderbar neben der Spur. »Vakuum« führt einen noch einmal zurück in die Teenage Angst, wie alt man auch sein mag.Aber selbst in den erschreckendsten Momenten kennt „Vakuum“ immer noch Auswege, Mehrdeutigkeiten, Traumresonanzen. David Small dagegen erzählt in „Stiche“ seine Kindheit in den fünfziger Jahren. Eine Kindheit, bei der es ein einziges großes Wunder ist, dass er sie überlebt hat. Schon das allererste Bild, Detroit im schwarzen Nebel seiner Fabrikschornsteine, lässt nichts Gutes erahnen. (Aber davor haben wir als Prolog gleichsam schon die Geschichte einer Rettung gesehen: Ein Junge, David vermutlich, verschwindet in seinem Zeichenblatt.)
Wir durcheilen die menschenleere Stadt bis zum Reihenhaus der Familie Small. Eine lieblose Mutter, die sich durch „kleinen Husten“, gelegentliches Schluchzen hinter verschlossenen Türen und das Zuknallen von Küchenschränken ausdrückt. (Später werden wir erfahren, was diese Frau so bösartig gemacht hat, warum sie ihren Mann und ihre Kinder hassen musste und wie die Unterdrückung der „falschen“ sexuellen Impulse in dieser prüden Gesellschaft funktionierte; wir werden David Smalls Mutter deswegen nicht verzeihen, aber doch auch Mitleid mit ihr haben.) Ein älterer Bruder, der sich am Schlagzeug austobt – eine andere Sprache des Zorns. Eine Großmutter, von der man nicht sagen darf, was alle wissen, nämlich dass sie verrückt ist (und der folgerichtig niemand verwehren kann, das eigene Haus in Flammen zu setzen). Und ein Vater, der als Arzt ganz und gar dem Glauben an Wissenschaft und Fortschritt verpflichtet ist und beständig Röntgenaufnahmen von seinem Sohn macht. Damit verhängt er fast ein Todesurteil über das Kind, und erst sehr viel später wird er ihm gestehen, dass Davids Kehlkopfkrebs eine Folge dieser Behandlungen war.In dieser Familie spricht man nicht miteinander, schon gar nicht über Gefühle, man drückt sich anders aus, und wie man das macht, ist lebensgefährlich für jeden. David überlebt nicht nur die Trostlosigkeit dieser Kindheit und die Krebsoperation, sondern mit der Hilfe eines Psychiaters (der die Form eines weißen Kaninchens angenommen hat) auch die Ablösung von dieser Familie als Krankheit. David Small wird zuerst Theaterautor, dann Kunstlehrer, Texter und Zeichner von wundersamen Kinderbüchern (die, wenn man’s genau nimmt, meistens von kleinen und großen David Smalls handeln, die sich auf irgendeine Weise selbst erfinden müssen, weil ihnen kein Familienroman einen Halt im Leben gibt), und dann gelingt ihm mit „Stitches“ das Kunststück, sich zugleich das eigene Grauen vom Leib zu zeichnen und ein ungeheuer intensives Zeitbild zu entwerfen.
Seine Zeichnungen scheinen skizzenhaft und beweglich; „Stiche“ ist mit seinen 328 Seiten ein echter Pageturner. Zugleich aber versteht es Small, in den Körperhaltungen und Blickwechseln, mit Lichteinfall und Traumsequenzen, sehr tief in die Seelen seiner Protagonisten einzutauchen. Man sollte diesen graphischen Roman mindestens zweimal lesen: Einmal ganz und gar ergriffen vom Weg des Helden, wie einen Lebensfilm, der die ungeheuerliche Arbeit von Überleben und Befreiung aus dem Gefängnis einer sehr grauen Lebensfeindlichkeit vor unseren Augen entfaltet. Und einmal mit dem Interesse für die Einzelheiten in der Zeichenkunst David Smalls, der in einem einzigen Panel so viel an Leere, Angst und Zorn unterbringt, dass nur das allerletzte Bild, ein Traum, die Erlösung bringen kann.
Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 19/2013
Hier findet sich eine weitere Kritik zu „Vakuum“.
Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände) und Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände). Kürzlich erschien in der Edition Tiamat Is this the end? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung.