Leo (eigentlich Luiz Eduardo de Oliveira) ist ein Schwergewicht in der Comicszene. 25 Kilogramm. So viel wiegen die Comics, die er in seiner Karriere seit Ende der 1980er veröffentlicht hat. 66 Alben, in denen es um Aliens, Hitler und duschende Frauen geht. Berühmt geworden ist Leo mit seinen Science-Fiction-Welten von „Aldebaran“ und „Betelgeuze“, deren extraterrestrische Randgebiete der Splitter Verlag derzeit im deutschen Sprachraum zugänglich macht. 55 Alben sind hierzulande erhältlich, weitere sollen in den nächsten Monaten folgen – und Leo schreibt noch immer. Wer mag da den Überblick behalten? Und lohnt sich das wirklich?
Der halbe Zentner Comics setzt sich vor allem aus den bisher 21 Alben der vier Aldebaran-Zyklen, bestehend aus den mehrteiligen Serien „Aldebaran“, „Betelgeuse“, „Antares“ und „Überlebende“, zusammen, in denen Leo, als Autor und Zeichner zugleich, immer neue Welten von den immer gleichen Personen bevölkern lässt.
Wo auch immer sie landen, immer treffen sie auf fremde Lebensformen, die ihnen einen tüchtigen Schrecken einjagen. Hinzu kommen die bislang 12 Alben der Kenya-Zyklen: „Kenya“, „Namibia“ und „Amazonia“. Die spielen auf der Erde, kommen aber auch nicht ohne Aliens aus. Leos Prinzip der Erzählzyklen hat den Vorteil, dass kundige Leser die Zusammenhänge sehen, Neueinsteiger die Zyklen aber auch ohne Verständnishürden lesen können. Darüber hinaus hat Leo die kanadische Mounty-Serie „Trent“, die Umweltserie „Mermaid Project“ und einige selbstständige Serien geschrieben, in denen auch fleißig kolonisiert wird: „Centaurus“ und „Fremde Welten“. Nur wenige Comics sind noch nicht ins Deutsche übersetzt worden: ein Gandhi-Comic von 1989 und die Reihen „Dexter London“, „Ultime Frontière“ oder das sehr aktuelle „Mutations“.
Splitter schließt diese Lücken derzeit, indem sie die alten Ausgaben, die in Deutschland bei Epsilon erschienen sind, in Neuübersetzungen neu auflegen, die bislang unvollständigen Serien abschließen und neue Serien eröffnen. Gerade ist das erste Album von „Rückkehr nach Aldebaran“ erschienen, bei Mutations stehe der Verlag schon „in den Startlöchern“, heißt es.
Mich haben die extraterrestrischen Welten des brasilianischen Autors und Zeichners Leo seinerzeit schnell fasziniert: die phantasievollen Lebensformen mit ihren Stacheln, Hörnern und ungewöhnlichen Extremitäten, die von den Figuren ebenso bestaunt werden wie von mir als Leser. Die Flora anderer Planeten, die unserer mal ähnlich sieht, mal völlig fremd. Ich habe mit „Aldebaran“ und „Betelgeuse“ begonnen und war von dem Einfallsreichtum des Autors begeistert. Das ist nun ein paar Jahre und einige hunderte Comicseiten Leolektüre her – Zeit für ein Wiederlesen. Aus dieser Relektüre ist eine Liste entstanden: vier Gründe, warum man Leo nicht (wieder-)lesen müsste.
1. Die Zeichnungen sind nicht spektakulär, sie überraschen einen nicht
Leo arbeitet und zeichnet mit verschiedenen Künstlern zusammen, manchmal als Autor, manchmal als Zeichner. Zwar arbeitet er auch gern als bloßer Szenarist (oder Ko-Szenarist), nimmt aber oftmals sowohl das Szenario als auch die künstlerische Gestaltung in die Hand. Als künstlerische One-man-show hat er die „Aldebaran“-Zyklen sowie „Ferne Welten“ geschrieben. Leos Zeichnungen sind nicht schlecht, viel schlimmer: Sie sind langweilig. Abgesehen von den fantasievollen Lebensformen ermüdet der Anblick der sich ständig erschreckenden und sich dann wieder gegenseitig anlächelnden Figuren recht bald, und dies lässt sich weniger verzeihen als das wenig kreative Seitenlayout. Lächeln – erschrecken – lächeln.
Besonders bedauerlich ist das, weil Leo es besser kann. Sein früher Comic „sex rev“ für #132 des französischen Magazins Pilote (1985) zeigt mehr grafischen Witz als die meisten Comics, die Leo danach geschrieben hat. An diesem Kurzcomic kann man auch erahnen, was Jean Giraud (Moebius) dazu bewogen hat, das Vorwort zu Leos „Aldebaran“ zu schreiben, weil man dessen Einfluss auf Leo dort zu erkennen glaubt. Wenn Leo als Szenarist mit anderen Zeichnern zusammenarbeitet, ist dies ein Gewinn: Bertrand Marchal etwa lässt „Namibia“ und Amazonia um einiges besser aussehen als „Kenya, und Fred Simon ist es zu verdanken, dass „Mermaid Project“ nicht nur thematisch, sondern auch zeichnerisch ganz aus dem Rahmen fällt. Im Guten.
2. Faszinierende Welten, aber fade Figuren
Leos Comics faszinieren aufgrund der fantasievoll-exotischen Ausgestaltungen seiner Welten: Der 50-tonnige Rieseneleuter, dessen echsenhafter Körper von Baumstämmen durchbohrt wird, oder die Pandabärähnlichen, aber telepathiebefähigten Iums, die in „Betelgeuse“ eine tragende Rolle spielen. In „Ferne Welten“ begegnen wir den (urkomischen) Stepanerks, riesenkrebsähnlichen Außerirdischen mit enormer Intelligenz, die alles danach beurteilen, ob es ihnen angenehm oder unangenehm ist. So einfallsreich Leo bei der Gestaltung von Fauna und Flora ist, so fade sind seine Figuren: Mann. Frau. Mann liebt Frau. Anderer Mann liebt Frau auch. Frau lächelt. Geschlechtsverkehr. Die Figuren kommen stets als Klischees daher: der brutale Großwildjäger, der kauzige Alte, die schöne Frau, der nachdenkliche Außenseiter, die wahnsinnig schöne Frau. Leo ist mit Tieren besser als mit Menschen, scheint mir. Vielleicht sollte er ein Bestiarium schreiben, ein „Aldebaran“-Lexikon mit einer Naturgeschichte seiner Bewohner. Aber ohne Menschen bitte.
3. Duschen, immer wieder duschen
In Filmen, Romanen oder Comics wird meist verschwiegen, dass die Figuren sich waschen, auf Toilette oder zum Kühlschrank gehen, um sich einen Joghurt zu nehmen. Leo könnte man zugutehalten, dass er mehr Realismus in seinen Comics pflege, indem er die Figuren duschen und sich umziehen lässt. Genau genommen: nicht, die „Figuren“, sondern die Frauen, die regelmäßig zeigen müssen, dass sie als Geschlechtspartnerin eine gute Wahl abgeben würden. Es gibt fraglos viele starke Frauen bei Leo, aber dass er (bzw. Rodolphe) die Männer immer wieder betonen lässt, die Frauen seien „jung und ziemlich hübsch“ oder „genauso hübsch wie in meiner Erinnerung – und sehr sexy“, ist weder ein Highlight der Figurencharakterisierung noch besondere Raffinesse in der Dialogführung: „Dann knabbere ich an deinen Ohrläppchen und an deinen Nippeln.“ Oder: „Sie hat sicher ganz süße kleine nackte Titten unter dem Bademantel.“ („Kenya“)
4. Leo neigt zur Wiederholung, Leo neigt zur Wiederholung
Bei serieller Genreliteratur muss man mit Wiederholungen rechnen. Science-Fiction-Autor Christophe Bec macht mit großem Erfolg vor, wie man mit einem überschaubaren Fundus an Mustern unglaublich viele Comics und lange Serien („Prometheus“, 17 Alben) schreiben kann. Auch Leo hat in seinem Repertoire nicht besonders viele Plots:
1. Menschen bevölkern einen anderen Planeten (und duschen). 2. Außerirdische kommen zur Erde (und Menschen duschen). Punkt.
Ist es der Kollektivvergangenheit von Leos Geburtsland Brasilien und seiner Wahlheimat Frankreich geschuldet, dass seine Storys davon besessen sind, neue Territorien zu kolonisieren oder die Zwangsbesiedelung der eigenen Heimat zu verhindern? Das wäre ja auch gar nicht tragisch, würde er dieses Setting nicht so konsequent immer wieder kopieren und kopieren.
Der Höhepunkt ist das „Aldebaran“-Spin-off „Überlebende“: Eine Gruppe von Weltraumreisenden landet auf einem Planeten und überlebt. Dazwischen wird geduscht, gebadet und geschlafen. Dies auf fünf Alben à 48 Seiten auszudehnen, ist eine Kunst für sich, aber auch eine, die ohne Publikum auskommt. Dennoch hat Leo eine große Fangemeinde, in Frankreich sind mehrere Filme unter der Regie von Emmanuel Buriez geplant, und auch mich haben Leos Geschichten zunächst in ihren Bann gezogen. Nach wie vor lese ich jeden Leo, der in die Comicläden kommt, weil seine Storys neben dem Trash (Hitler und Ufos), abseits der Soap-opera-Beziehungsklischees, der wenig spektakulären Zeichnungen und unabhängig von den inhaltlichen Unstimmigkeiten dem Leser immer die Lüftung eines großen Geheimnisses versprechen. Dass dies dann manchmal gar nicht eingelöst wird, ist nebensächlich.
In Rezensionen werden Leos Comics gern als „komplex“, „abwechslungsreich“ und „vielschichtig“ bezeichnet. Man kann dies nur behaupten, wenn man einen großen Zwinkersmiley dahintersetzt, denn darin liegen wirklich nicht die Qualitäten von „Aldebaran“, „Kenya“ oder „Ferne Welten“. Weder die Figuren noch die Handlung sind komplex, und Abwechslung findet man am ehesten in „Mermaid Project“. Leo überrascht nicht, aber er liefert konsequent und macht erzählerisch plausibel, was eigentlich an den Haaren herbeigezogen ist (etwa die Handlung von „Namibia“).
Maximilian Schlegel vom Splitter Verlag hat aber Recht, wenn er schreibt, Leos Stärke liege in dem „sense of wonder“, den die fremden Darstellungen beim Leser erzeugen. Deshalb funktionieren die Alben trotz ihrer Schwächen. Je mehr auf dem deutschen Markt erscheint, umso unübersehbarer werden diese. 25 Kilogramm Aliens, Hitler und nackte Haut. Tendenz steigend.
Schwer, aber nicht schwierig.
Dieser Text erschien erstmal in der Comixene #128 (2018), S. 63-66.
Hier findet sich ein Interview mit Leo, hier eine weitere Exkursion in seine SciFi-Welten.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.