François Schuitens und Benoît Peeters inzwischen 15-bändiger Alben-Zyklus „Cités Obscures“ („Die Geheimnisvollen Städte“) ist längst zu einem Klassiker der franko-belgischen Fantastik geworden. Die ehemaligen Pariser Klassenkameraden Schuiten und Peeters haben in den 1980ern an ihre kreativen Kollaborationen der Schulzeit angeknüpft und mit „Die Mauern von Samaris“ (1983) den Grundstein für eine jahrzehntelange Zusammenarbeit gelegt.
In Deutschland wurden die Comics zunächst bei Feest (1988-96), dann bei Ehapa (1994-2000) und seit 2002 bei Schreiber & Leser veröffentlicht. Seit 2012 widmet der Verlag sich verstärkt dem Projekt, die bisherigen Alben in neuer Übersetzung herauszugeben – was sich auch in den Titeln niederschlägt. Dabei sind mehr als bloße Reproduktionen der Erstveröffentlichungen entstanden. Zunächst einmal sind sämtliche Texte neu übersetzt und gelettert worden. Außerdem liegen in manchen Fällen von Schuiten und Peeters verantwortete Überarbeitungen vor, sodass Schreiber & Leser auf diese zurückgreifen kann. In manchen Fällen sind solche Eingriffe marginal, in anderen gravierend. 2018 ist „Erinnerung an die ewige Gegenwart“ erschienen, 2019 folgte „Der Weg nach Armilia“.
„Erinnerung an die ewige Gegenwart“ erschien ursprünglich (1994) bei Arboris im Querformat und enthält Illustrationen, die Schuiten für Raoul Servais‘ Film „Taxandria“ (1994) gezeichnet hat. Jahrzehnte später hat Castermann die „Erinnerung an die Gegenwart“ neu herausgegeben – allerdings in veränderter Fassung. Schuiten und Peeters setzten sich erneut an den Zeichentisch, arrangierten die Illustrationen neu und gestalteten den Comic im Albenformat. Außerdem ersetzten sie die Bildunterschriften durch Texte in Sprechblasen. Auf dieser Ausgabe basiert die Neuausgabe, die Schreiber & Leser nun auch dem deutschen Markt zur Verfügung stellt.Aimé ist das letzte Kind in einer postapokalyptischen Welt, in der technische Geräte (und Frauen) keinen Platz mehr haben. Zufällig stößt Aimé auf ein Buch, in dem die Ursachen der „Großen Katastrophe“ geschildert werden. Fortschrittsverblendete Wissenschaftler haben einst eine Technologie entwickelt, um sich selbst und ihre politischen Eliten zu duplizieren und auf diese Weise Segen und Freude über die Menschheit zu bringen. Natürlich ging das in die Hose, und die Welt von Taxandria versank in Trümmern. Fortan verkehrte sich die Ideologie in ihr Gegenteil: Aus dem bedingungslosen Glauben an die bessere Zukunft entwickelte sich eine strikte Tabuisierung der Vergangenheit, bis hinein in die Sprache: Das Wort „Früher“ gilt dort als verboten. Der Fortschrittsoptimismus einer narzisstischen Welt ist der völligen Verleugnung der Historie gewichen.
In diesem Setting versucht Aimé – und mit ihm auch wir Leser – diese groteske Welt zu verstehen, deren Ruinen dem Betrachter so viele Rätsel aufwerfen: Gigantische antikisierende Säulen schießen aus dem Boden empor, Zahnräder trennen die Straßenzüge, Risse in den Hauswänden geben den Blick auf die urbane Landschaft frei. Jedes Panel ist ein Wimmelbild der Absurditäten, deren Faszination darin besteht, dass Schuiten sie zeichnerisch derart normalisiert hat, dass wir die Seltsamkeiten zunächst hinnehmen, anstatt sie zu hinterfragen. Der Comic endet fantastisch (im Sinne Todorovs), insofern wir nicht entscheiden können, ob die skurrilen Erlebnisse Aimés wirklich stattgefunden und die Welt von Taxandria eine in der Fiktion reale ist, oder ob es lediglich die Kopfgeburt eines phantasievollen Jugendlichen ist.
Die Ausgabe enthält einen Appendix mit Informationen zu dem Filmprojekt „Taxandria“. Das kennen wir schon, Schuiten und Peeters spielen gern mit Hybridformen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen. Dieses Nachwort aber ist gar nicht fiktional, sondern völlig authentisch: Peeters schildert die schwierige Zusammenarbeit an dem Film „Taxandria“, dessen Endergebnis ganz anders aussah als Schuitens Entwürfe, die er schließlich für „Erinnerung an die Gegenwart“ zweitverwertet hat. Nun, Jahrzehnte später, haben die Autoren das Material erneut gesichtet, neue Zeichnungen angefertigt, alte Fassungen überarbeitet, um die Geschichte mit etwas Distanz zu dem turbulenten Produktionsprozess neu zu schreiben. Das Ergebnis ist die vorliegende Ausgabe.Fast mag man die im Nachwort geschilderte Entstehungs- und Editionsgeschichte für Kolportage halten, passt sich das künstlerische Verfahren doch allzu gut in die Struktur der „Geheimnisvollen Städte“ ein: Bei den Neu-Arrangements der Zeichnungen wurden Figuren versetzt und Elemente verschoben. Alles scheint ein wenig neben der Spur zu sein und wiederholt damit den Effekt des Künstlichen, den schon Taxandria als Stadt erzeugt hat. Schein und Sein klaffen auseinander wie bei den artifiziellen Fassaden in „Die Mauern von Samaris“.
Nun hat Schreiber & Leser mit „Der Weg nach Armilia“ einen weiteren Comic der Serie veröffentlicht. Er handelt von dem jungen Ferdinand, der an Bord eines Zeppelins von Mylos bis Armilia an den Nordpol reist, um dort mittels einer auswendig gelernten Formel die Stadt vom Eis zu befreien. Es gelingt ihm schließlich, aber inwiefern seine Reise nur ein Traum oder die von einer befremdlich-vorindustriellen Wirtschaftselite induzierte Halluzination eines Arbeitssklaven ist, bleibt offen. Ferdinand scheint in einer Matrix avant la lettre gefangen zu sein, in einer künstlichen Welt, die er für die wirkliche hält, während er an technische Geräte angeschlossen ist und schwere Arbeiten verrichtet. Wir sehen Kolonnen von willenlosen Arbeitern in einer Halle, die von ihrer Umgebung offensichtlich wenig mitbekommen, sondern völlig in einer Traumvision versunken scheinen.
Die Zeppelinfahrt durch West- und Nordeuropa (an fremd-vertrauten Städten führt die Reise vorbei) ist eine imaginery voyage entlang eines architektonischen Kuriositätenkabinetts: bodenlose Städte, Wolkenkratzer bis in den Himmel und darüber hinweg, ein auf Rädern durch eine Schlucht fahrender Raddampfer. So weit, so verrückt, aber der brutale Twist am Ende verwandelt das Märchen mit einem vergifteten Kuss in ein blankes Horrorszenario.Die Änderungen gegenüber dem Original sind nicht so gravierend wie bei „Erinnerung an die Gegenwart“, es gibt keine neuen Zeichnungen, keine veränderten Arrangements, keine neu-gestalteten Sprechblasen. Die Übersetzung von Resel Rebiersch ist wesentlich eleganter als die bisherige von Marcus Reinfried. Das Lettering hingegen hat mir in der Feest-Ausgabe besser gefallen: Der Eindruck eines Tagebuchs, das Ferdinand mit Tinte auf Papier schreibt, kommt dort besser zur Geltung als in der Neuausgabe – zumal der Text besser lesbar war. Erwähnenswert ist noch der Anhang – immerhin ist der Comic mit „und andere Legenden“ untertitelt. Als Bonusmaterial erhält der Leser die Kurzgeschichten „Das schräge Mädchen“, „Mondpferde“ und „Die Perle“, die bereits in der Casterman-Ausgabe von 2010 enthalten sind. „Die Perle“ ist in dieser Ausgabe erstmals gedruckt worden.
Es ist zu begrüßen, dass Schreiber & Leser nicht müde wird, die Reihe komplett neu herauszugeben. Es wäre vor allem wünschenswert, wenn auch die vergriffenen Bände „Das Stadtecho“ und der „Führer durch die Geheimnisvollen Städte“ eine Neuausgabe erhielten.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.