Suizidaler Superheld mit Fluchttrieb – „Mister Miracle“

Mister Miracle ist kein DC-Held der ersten Reihe, sondern eher ein Comeback-Wunder, das nicht totzukriegen ist. Der jüngste Versuch der Eisner-Award-Gewinner Tom King und Mitch Gerads, die Geschichte des Jack-Kirby-Superhelden zu erzählen, ist sicherlich ein Höhepunkt dieser Publikationshistorie.

Die Superkraft des suizidal veranlagten Mister Miracle, dessen bürgerliche Identität Scott Free heißt, besteht (neben körperlicher Kraft) in seinem stark ausgeprägten Fluchttrieb: Er kann jeder Falle entkommen, die andere ihm stellen. Dass er vor seinen eigenen Problemen nicht fliehen kann, ist seine tragische Bürde. Diese ungewöhnliche Superkraft verdankt er seiner Erziehung: Im Rahmen eines interplanetaren Tauschgeschäfts wurde er einer anderen (und wenig offenherzigen) Familie zugewiesen: Schlimmer hätte es ihn nicht treffen können. Darkseid und Granny Goodness sind die Superschurken dieser Welt, und die Erziehung ist alles andere als Jesper-Juul-kompatibel: „Lieben Sie Ihre Kinder doch einfach“ ist nicht deren Maxime. Scott Free versucht, seinen Stiefeltern zu entkommen, stets erfolglos, sodass sie den bislang namenlosen Jungen spöttisch „Scott Free“ nennen. Als er schließlich doch entwischt, verschlägt es ihn auf die Erde, wo er dem Varieté-Künstler Thaddeus Brown begegnet und dessen fiktive Identität übernimmt. Fortan ist er Mister Miracle und wird weltweit für seine Befreiungskunststücke bewundert. Dass er selbst darin kein Glück findet, lässt sich auch als Erzählung über den glanzlosen Ruhm von Celebreties verstehen, deren Doppelidentität in der Existenz als Nachbar oder Familienmitglied einerseits und Superstar andererseits besteht. Scott Free kann sich nicht anders von seinen Sorgen befreien, als sich die Pulsadern aufzuschneiden. Wie ironisch, dass ihm dieser Befreiungsversuch so kläglich misslingt.

Tom King (Autor), Mitch Gerads (Zeichner): „Mister Miracle Megaband: Darkseid ist“.
Panini, Stuttgart 2019. 308 Seiten. 30 Euro

Tom King hat den Superhelden in eine leidende, aber nicht wehleidige Figur verwandelt, die ihre traumatische Kindheit nicht abschütteln kann. Scott Free steht Big Barda zur Seite, eine großgewachsene Furie guten Charakters und eine Unterstützung im Kampf gegen das Böse, das ihn bis auf die Erde verfolgt. Es entfalten sich aberwitzige Gespräche zwischen beiden, grandiose Szenen, deren Höhepunkt vielleicht die Kampfsequenz in #6 ist, wo Bild- und Textebene so grotesk auseinanderklaffen, dass man laut lachen möchte: Während Bag Barda und Mister Miracle sich mit den Schergen des Bösen wilde Auseinandersetzungen liefern, unterhalten sie sich über die Renovierung der Wohnung inklusive der Einrichtung des Kinderzimmers, das die beiden bald benötigen werden. In #10 suchen Scott und Big Barda Rat bei Hotdog-Straßenverkäufer Chet: Sollen sie ihr Kind opfern, um einen interplanetaren Krieg zu vermeiden? Seine Antwort verrät, dass es sich nicht um eine bloße Rechenaufgabe handelt (nur für Utilitaristen), sondern um ein moralisches Dilemma, das wir im Deutschen als „Weichen-Dilemma“ kennen. Sein Fazit: „Ist kacke, aber so ist das Leben.“

Dass Zeichner Mitch Gerads während der Arbeit an dem Comic gerade Vater wurde, wird diesen Comic und die Familienbilder, die in der zweiten Hälfte eine große Rolle spielen, stark geprägt haben. Tom King gewann den 2018 den Eisner Award als „Best Writer“, Mitch Gerads als „Best Inker/Penciller“, aber damit nicht genug: Auch 2019 wurden die beiden Schöpfer in diesen Kategorien ausgezeichnet, außerdem wurde „Mister Miracle“ nun auch als „Best Limited Series“ prämiert. Das ist viel Ehre für diese zwölfteilige Serie, die zugleich lustig, tiefsinnig, spannend und bildgewaltig ist. In den USA erschien „Mister Miracle“ zwischen August 2017 und November 2018, der aktuelle Megaband vereinigt alle zwölf Ausgaben.

Da hatte Mister Miracle schon eine lange und lückenhaft Publikationshistorie hinter sich: Die Figur wurde von Jack Kirby geschaffen, und das Cover der ersten Ausgabe vom April 1971 hat Gerads als Wandbild in Scott Frees Wohnung platziert. Die Serie um den Befreiungskünstler riss immer wieder ab, wurde erneut gestartet und brach erneut ab. Die Neuinterpretation von King und Gerads in ihrer auf zwölf Ausgaben beschränkten Serie ist auch ein Kniefall vor seinem Schöpfer Jack Kirby. Die beiden Freunde Tom King und Mitch Gerads haben bereits gemeinsam an der in den USA sehr erfolgreichen Irak-Krieg-Story „The Sheriff of Babylon“ (2015-16) gearbeitet, die es aufgrund des eher amerikanischen Themas vielleicht niemals nach Deutschland schaffen wird. Man kann die Handschrift der beiden Künstler in ihrer Vorliebe für schwarze Einzelpanels gut wiedererkennen, ansonsten ist der Seitenaufbau bei „Mister Miracle“ mit seiner durchgängigen 3×3-Panel-Struktur wesentlich konsequenter.

Mit „Mister Miracle“ ist den beiden ein großer Wurf gelungen, der sich bei den Eisner Awards etwa gegen Sean Murphys „Batman – The White Knight“ durchgesetzt hat. Keine Frage: Diesen Comic sollte man 2019 nicht verpasst haben.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Mister Miracle“ (Panini / DC Comics)