„Ein typischer Freitagabend. Manche müssen arbeiten, damit andere feiern können.“ Die Rollen sind ziemlich klar verteilt. Daria gehört zu denen, deren Blick „von unten“ auf die Verhältnisse fällt, sie muss arbeiten, während andere feiern können. Morgens steht die Mittzwanzigerin in aller Frühe auf, um im Auftrag der Stadt Malmö Fahrradfahrer auf dem Weg zur Arbeit zu zählen, geht dann zur Kunsthochschule, wo sie Illustration studiert, um danach bis tief in die Nacht im indischen Restaurant „Curry Hut“ Gäste zu bedienen. In ihrem autobiographischem Comic „Von unten“ erzählt Daria Bogdanska von ihrem prekären Arbeitsalltag.
Die 1988 in Warschau geborene Zeichnerin hat schon mit 15 wegen eines prügelnden Vaters ihr Elternhaus verlassen, in besetzten Häusern gelebt und sich zuletzt in Spanien mit schlecht bezahlten Jobs über Wasser gehalten. „Ich wurde unzählige Male gefeuert. Und immer, weil ich mich gegen die Ungerechtigkeit gewehrt hatte“, fasst sie ihre Erlebnisse zusammen. Im schwedischen Malmö versucht sie einen Neustart. An der Jobmisere ändert der Umzug aber erst mal nichts. Egal, ob im hippen Fairtrade-Café, als Fahrradkurier oder als Verkäuferin – überall sind die Arbeitsbedingungen mies und Kritik wird nicht geduldet.
Der Gastronomiebetreiber Sanad wirkt zunächst vertrauenserweckend, auch wegen seiner Migrationsbiographie. Ihm gehören mehrere Lokale, darunter eine Bar und ein indisches Restaurant, in dem Daria zu arbeiten beginnt. „Die Häng-Bar ist, wo alle coolen Leute hingehen“, erklärt Sanad seiner neuen Kellnerin, „die vermutlich angesagteste Bar in Malmö und mein ganzer Stolz. Wir sind wie eine große Familie. Nach der Schicht bleiben wir noch, trinken Bier und quatschen. Ich bin da großzügig. Komm doch bald mal vorbei, wenn du im Curry Hut durch bist.“ Die Atmosphäre in seinen Lokalen, in denen die subkulturelle Linke der Stadt verkehrt, lässt die junge Frau zunächst darüber hinwegsehen, dass sie ohne Arbeitsvertrag jobbt. Der Kumpel-Chef Sanad, der sich gerne mit Punks und Studentinnen umgibt, weiß geschickt von den tatsächlichen Verhältnissen in seinen Läden abzulenken, die nicht nur ausbeuterisch, sondern auch strukturell rassistisch sind.Ausbeuterische Arbeitgeber und ängstliche Angestellte
„Fast niemand in der Curry Hut hat einen Vertrag. Aber das ist nicht das Schlimmste. Leute, die dort schon seit mehreren Jahren arbeiten, bekommen 40 bis 45 Kronen pro Stunde, wenn sie aus Bangladesh sind. Ich bekomme 50, und Ida aus irgendeinem Grund 60“, erzählt Daria ihrem neuen Kollegen Daniel. „Alle im Curry Hut arbeiten schwarz. Der Chef muss keine Steuern abdrücken und zahlt uns Hungerlöhne, die auf unserer Herkunft basieren.“ Gegen diese Praktiken beginnt Daria sich aufzulehnen. „Ich will keine Sklavin sein“, ist nach einem aufreibenden Arbeitstag ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen. Davon angetrieben sucht sie Mitstreiter, tritt in die Gewerkschaft ein, kontaktiert Journalisten und spricht mit anderen betroffenen Migranten.
Der Comic schildert, wie ausbeuterische Arbeitgeber auf die Angst ihrer prekär beschäftigten Mitarbeiter bauen können. „Daria, dass sich hier etwas ändern muss, ist klar. Ich habe es auch satt, so zu leben. Aber leider können ich und die anderen nicht mitmachen, zu riskant. Wir sind alle auf unsere Weise von Sanad abhängig“, erklärt ihre Kollegin Nirja, warum sie Darias Proteste nicht unterstützen kann. Daria dagegen verwandelt sich von einer unsicheren Migrantin zu einer gewerkschaftlich organisierten Kämpferin. Nach Verhandlungen mit ihrem Arbeitgeber, die von der schwedischen Gewerkschaft unterstützt werden, muss der Gastronom ihr den unterschlagenen Lohn auszahlen. Bogdanska erzählt von Kämpfen, die migrantische Jobber in Europa tagtäglich führen. Diese Kämpfe, so macht sie deutlich, kann niemand alleine gewinnen. Ein frustrierter Gewerkschafter fasst die triste Realität so zusammen: „So was endet eigentlich immer gleich. Ihr werdet gefeuert, bekommt vielleicht eine Abfindung und alles geht so weiter wie bisher.“
Doch die Arbeit im „Curry Hut“ ist nicht das einzige Abhängigkeitsverhältnis, aus dem Daria sich befreit. Sie beginnt auch, die Abhängigkeiten in ihrem Privatleben zu hinterfragen. Da ist der Schwede Erik, den sie in Spanien kennengelernt hatte und der ihr geholfen hatte, sich in Malmö zurechtzufinden. Daraus ist eine Art von Liebesbeziehung entstanden. Da Erik auf einem Bauernhof außerhalb der Stadt lebt, sehen die beiden sich nur selten.Abhängigkeit und Befreiung
„Eigentlich gefällt es mir ganz gut, wie es zwischen uns ist. Ohne großen Erwartungsdruck“, verrät sie ihrem vertrauten Freund Mendi. „Aber ich weiß irgendwie nicht. Ich wünschte, ich hätte mal etwas, das bleibt, wie es ist. Jemand, auf den ich mich verlassen kann.“ Daria fühlt sich Erik gegenüber verpflichtet, weil er ihr beim Ankommen in Malmö geholfen hat. Dem leicht depressiven, vor allem aber naiven Erik ist Darias Abhängigkeit ganz recht. Wenn es ihm passt, besucht er sie in Malmö, ruft sie an oder bittet sie, Weihnachten mit ihm zu verbringen. Er nutzt ihre Unsicherheit subtil aus, wenn er vorschlägt, sie zu heiraten, um ihren Aufenthaltsstatus zu festigen. Dazu kommt es nicht. Daria lernt den Punk Krisse kennen und verliebt sich in ihn. Sie trennt sich von Erik und entwickelt auch als Künstlerin immer mehr Selbstbewusstsein.
Der in Schwarzweiß gehaltene Comic schildert die prekäre Lage einer Generation ohne sichere Jobs, das Leben in der Malmöer Underground-Szene und die Sehnsucht der jungen Frau nach einer Perspektive. „Von unten“ erzählt in mehrfacher Hinsicht eine Geschichte der Befreiung – aus Arbeitsverhältnissen, den Abhängigkeiten einer Beziehung und aus der Unsicherheit wegen der eigenen Zukunft. Der Comic versucht, diese verschiedenen Formen von Abhängigkeit in einen Zusammenhang zu bringen. „Alles ist provisorisch, alles ist unsicher. Wir müssen uns immer sagen lassen, unsere Generation sei ›verwöhnt‹. Aber wir sind Produkt und Opfer des Systems, in dem wir leben: im Kapitalismus“, erklärt die Zeichnerin in einem Interview ihre Arbeit.
Diese Ambivalenz, gleichzeitig Produkt und Opfer des Kapitalismus zu sein, spiegelt sich auch in einem Subtext des Comics: der politischen Punkszene, von der Daria geprägt ist. Die Subkultur steht nicht im Vordergrund, gibt dem Album aber durch Poster, Konzerte und Bandshirts einen roten Faden. „Das Kapital erhöht die Mieten und der Staat das Wohngeld, so kann man das eiserne Lohngesetz hintergehn“, singt eine schwedische Punkband im Comic. Die gleichen Widersprüche, mit denen Punk sich seit seiner Entstehung in den späten Siebzigern herumschlagen muss, machen auch Daria zu schaffen: So sehr man sich auflehnt gegen das System, die Gesellschaft, den Kapitalismus, so sehr bleibt man doch deren Teil. Antikapitalistische Lyrics und Ideale alleine sorgen nicht für eine freie Gesellschaft. Sie können aber motivieren, im eigenen Umfeld zu einem besserem Leben beizutragen. Dafür bedarf es der Vernetzung und der Solidarität – und der richtige Soundtrack ist auch nicht verkehrt.
Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 29/2019
Hier findet sich ein Interview mit Daria Bogdanska.
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.