Weder Helden noch Märtyrer – „Überlebt!“

„Ich weiß, dass unsere Toten nicht tot sind, solange wir leben“, geht Carmen Castillo im letzten Panel von „Überlebt!“ durch den Kopf, während sie von ihrem Balkon aus über das friedliche Paris der Gegenwart blickt. Sie ist gerade aus Santiago de Chile zurückgekehrt, wo sie sich selbst mit ihrer Vergangenheit konfrontiert hat, mit ihrem Leben im Untergrund als Teil der MIR (Movimiento de Izquierda Revolucionaria / Bewegung der revolutionären Linken) zur Zeit von Pinochets Militär-Junta, mit dem Schicksal ihrer gefolterten und ermordeten Genossen und vor allem ihres Lebensgefährten Miguel Enríquez, der am 5. Oktober 1974, ein Jahr nach dem Militärputsch, in seinem Versteck aufgestöbert und erschossen wurde.

Auf den Erinnerungen von Carmen Castillo, heute Dokumentarfilmerin in Paris, basiert die Graphic Novel „Überlebt!“ der Franzosen Loïc Locatelli Kournwsky und Maximilien Le Roy, die an den Militärputsch aus der Perspektive der radikalen Linken erinnert. Carmen Castillo und Miguel Enríquez waren zwei der zentralen Figuren des chilenischen Widerstands gegen Pinochet. Unter Salvador Allende haben sie sich nicht nur als euphorische Anhänger des sozialistischen Experiments gezeigt, sondern standen dem Präsidenten auch selbst persönlich nahe: Der Mediziner Miguel Enríquez war der Sohn des Bildungsministers und häufiger Gast im Haus Allende, Carmen Castillo arbeitete als Sekretärin im Regierungssitz und war eng mit Allendes Tochter Beatriz befreundet.

Loïc Locatelli Kournwsky (Autor), Maximilien Le Roy (Zeichner): „Überlebt!“.
Aus dem Französischen von Christoph Schuler. Edition Moderne, Zürich 2016. 136 Seiten. 29 Euro

„Überlebt!“ beginnt mit dem Ende dieser hoffnungsvollen Zeit, dem 11. September 1973, als Pinochet mit dem Militär gegen Allende putscht, den Regierungssitz bombardieren lässt und Allende nach einer letzten Ansprache im Radio Suizid begeht. Eine Tatsache, die in der Linken lange Zeit übergangen wurde, Suizid passte nicht in das Bild des starken Staatsmanns. „Dass die chilenische Linke Allendes Selbstmord von Anfang an nicht wahrhaben wollte, ist eine monumentale Dummheit und für viele nur mit einer irregeleiteten stalinistischen Moralvorstellung zu erklären, die den Suizid als unpolitische Handlung betrachtet“, erinnert sich Castillo in einem dem Comic beigefügten Interview.

Allende war 1970 als Kandidat der Unidad Popular, eines Zusammenschlusses von Sozialisten, Kommunisten und anderer Linksparteien, zum Präsidenten gewählt worden und hatte in den kurzen Jahren seiner Amtszeit unter anderem die Bodenschätze des Landes verstaatlicht und ausländische Großunternehmen enteignet sowie eine kostenlose Schulbildung und Gesundheitsversorgung für alle eingeführt. Nach einer kurzen Phase des Aufschwungs begann die Wirtschaft, auch aufgrund eines Wirtschaftsboykotts durch die USA und andere westliche Staaten, zu kriseln, die Inflation stieg bis 1973 auf über 600 Prozent.

Castillo warnt jedoch im Interview davor, den Putsch auf die ökonomische Situation des Landes zurückzuführen: „Wer behauptet, der Staatsstreich sei eine Folge der Wirtschaftskrise gewesen, der vergisst, was seither über die Planung und Durchführung des Staatsstreichs ans Licht gekommen ist. Nachdem die reaktionären Kräfte begriffen hatten, dass Allende nicht auf demokratischem Weg gestürzt werden konnte, weil der Widerstand der Bevölkerung zu groß gewesen wäre, begannen die Vorbereitungen zum Staatsstreich.“

Das Duo Loïc Locatelli Kournwsky und Maximilien Le Roy zeigt das Leben im Untergrund, auf der Flucht und in ständiger Angst, aufgegriffen und in die Folterkeller der Militärs verschleppt zu werden. Sie bilden die brutale Folter ab, die in der Zeit von Pinochets Regime bis zum 11. März 1990 über 38.000 Menschen erleiden mussten, während etwa 3200 starben oder „verschwanden“. Im Zerbrechen des kleinen Glücks des Paares Castillo und Enríquez spiegelt sich das Ende der Hoffnung auf ein anderes Chile unter Allende. Enríquez wird erschossen, die bei ihrer Verhaftung schwangere Castillo gelangt durch internationalen Druck über Argentinien nach Europa, ihr Kind jedoch stirbt kurz nach der Geburt.

Die Mitglieder der MIR werden weder als Helden noch als Märtyrer gezeichnet, sondern mit all ihren Ängsten und Schwächen, aber auch ihrem Enthusiasmus und ihrer Hoffnung auf ein anderes Leben. Die warmen Farben des Comics zeigen, wem die Sympathie des Autoren-Zeichner-Duos gilt, das den Toten und Verschwundenen ebenso ein Gesicht gibt, wie es an deren Hoffnung auf eine andere Gesellschaft festhält. Allendes Tochter Beatriz fasst im Comic diese Hoffnung zusammen: „Wir werden es schaffen … ein gerechteres, schöneres, stärkeres Lateinamerika.“

Dieser Text erschien zuerst am 07.07.2016 in: Neues Deutschland

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.

Seite aus „Überlebt!“ (Edition Moderne)