„Wir müssen den Fall der Mauer neu betrachten“

Soeben ist im Splitter Verlag die Graphic Novel „Das Spiel der Brüder Werner“ über das legendäre Fußball-Weltmeisterschaftsspiel BRD-DDR 1974 in Hamburg erschienen. In dieses politisch aufgeladene Setting platziert Autor Philippe Collin seine beiden (fiktiven) Protagonisten, die Brüder Andreas und Konrad Werner, die als Stasi-Agenten das Spiel im Auftrag Erich Mielkes infiltrieren und „absichern“ sollen. Der eine ist als Geheimagent im Westen tätig und im Umfeld des DFBs installiert, der andere als Teil des ostdeutschen Nationalteams zum ersten Mal im Westen. Seinen fiktionalen Hauptfiguren stellt Collin zahlreiche reale Akteure zur Seite: Jürgen Sparwasser von der DDR-Nationalmannschaft, Paul Breitner, Berti Vogts und Franz Beckenbauer vom BRD-Team. „Das Spiel der Brüder Werner“ erzählt von der Unterwanderung des DDR-Fußball durch die Stasi, von Paul Breitners Konflikten mit dem DFB und von der knisternden Atmosphäre im Hamburger Volksparkstadion am 22. Juni 1974, als sich der Kalte Krieg und die deutsche Teilung für die Länge eines Fußballspiels zeitgleich hochkonzentriert entluden und nichtig wurden. Der Autor Philippe Collin ist ein französischer Journalist und Historiker, der u.a. für Radio France und ARTE arbeitet. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Splitter Verlags.

Lieber Philippe Collin, vielen Dank erst mal, dass Sie sich die Zeit nehmen, um über ihre beeindruckende Graphic-Novel-Erzählung „Das Spiel der Brüder Werner“ mit uns zu sprechen. Können Sie uns eingangs ein bisschen über sich selbst verraten? Sie sind studierter Historiker und arbeiten als Journalist, richtig? Wie sind Sie denn zum Schreiben von Comics gekommen? Was verbindet sie mit diesem Medium?

Ich habe Geschichte studiert, und in meiner Abschlussarbeit ging es um die Abrechnung mit französischen Kollaborateuren nach der Befreiung von der Nazi-Herrschaft. In Frankreich versteht man unter „Kollaborateuren“ all diejenigen, die die deutschen Besatzungstruppen tatkräftig unterstützt haben. Seit 1999 bin ich Autor und Produzent für das französische Radio und Fernsehen. Ich arbeite für den öffentlich-rechtlichen Radiosender France Inter, und vor acht Jahren begann ich auch, ein deutsch-französisches Kulturmagazin für ARTE zu produzieren, das auf Deutsch unter dem Titel „Abgedreht!“ lief.

2013 fing ich an, mein erstes Comic-Szenario zu schreiben, „Le voyage de Marcel Grob“ („Die Reise des Marcel Grob“). Ich habe mich für diesen Weg entschieden, weil es sich dabei um ein generationenübergreifendes Medium handelt, mit dem man eine breite Öffentlichkeit erreichen kann. Im Übrigen stamme ich aus eher bescheidenen Verhältnissen. Ich habe mit Comics lesen gelernt. Und nicht zuletzt halte ich sie für ein anspruchsvolles Vehikel, das es ermöglicht, komplexe Geschichten und Sachverhalte zugänglich zu machen.

Bleiben wir bei „Die Reise des Marcel Grob“, ihrem ersten Comic-Szenario und ihrer ersten Zusammenarbeit mir Zeichner Sébastien Goethals. In dem Comic erzählen Sie die Geschichte Ihres Großonkels, der als Jugendlicher in die Waffen-SS zwangsrekrutiert wurde und an Kriegsverbrechen teilnahm. Was können Sie uns über die Hintergründe des Projekts erzählen? Warum wollten Sie diese Geschichte erzählen? Und wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Sébastien?

Mein Großonkel, Marcel Grob, wurde am 28. Juni 1944 zwangsrekrutiert und der 16. Panzergrenadierdivision der Waffen-SS zugewiesen, wobei ich sehr lange glaubte, er hätte sich freiwillig gemeldet. Nach seinem Tod 2012 habe ich mir sein Soldbuch aus dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen, und beim Sichten seiner Unterlagen stellte ich fest, ich hatte mich geirrt. Er war mit 10 000 anderen jungen Franzosen gegen Ende des Krieges in eine Falle der Nazis geraten. Deshalb wollte ich das Schicksal dieser jungen Männer, die in der Finsternis des 20. Jahrhunderts in der Falle gesessen haben, ans Licht bringen und mein Fehlurteil wiedergutmachen. Eine Art um Verzeihung zu bitten.

Nachdem mein Szenario fertiggestellt war, wandte ich mich an einen französischen Verlag, den ich schätze. Sébastien Gnaedig, mein Verleger, war von meiner Geschichte überzeugt, vermittelte mir den Kontakt zum Zeichner Sébastien Goethals, und seither haben wir eine starke kreative Beziehung entwickelt.

Wenn ich mich nun dafür entschieden habe, diese sehr persönliche Geschichte als Comic umzusetzen, so ging es zum einen darum, ein möglichst breites Publikum zu erreichen, sowohl von den Altersstufen wie auch von der sozialen Schichtung her. Ich erinnere daran, dass sich dieses Buch in Frankreich über 130 000 Mal verkauft hat, das ist enorm. Und ich wollte mich auch mit diesem populären Medium auseinandersetzen und dabei hohe Ansprüche an historische Recherche und die Schreibweise stellen.

Philippe Collin (Autor), Sébastien Goethals (Zeichner): „Das Spiel der Brüder Werner“.
Aus dem Französischen von Harald Sachse. Splitter Verlag, Bielefeld 2020. 152 Seiten. 25 Euro

Nun erscheint mit „Das Spiel der Brüder Werner“ Ihre zweite Comicerzählung. Das Thema hat diesmal nichts mehr mit Frankreich zu tun, sondern beschäftigt sich komplett mit deutsch-deutscher Geschichte und deutschem Fußball, speziell der Weltmeisterschaft 1974 in Hamburg. Wie kamen Sie auf das Thema?

Mein zweites Album spielt in Deutschland, weil ich mich nach der Beschäftigung mit einer zerstörten französischen Jugend in „Le voyage de Marcel Grob“ gefragt habe, was es für ein deutsches Kind oder einen Jugendlichen bedeutete, sich dem übermächtigen historischen Schicksal gegenüberzusehen, Mai 1945 in den Trümmern Berlins, im Jahre Null. Ein Versuch, die Psychologie, die Ängste, die Hoffnungen zweier deutscher Waisenkinder im Moment des Untergangs des Dritten Reichs zu verstehen: Was heißt das, in einem verwüsteten Heimatland heranzuwachsen, das tabuisiert war, zerstückelt, bevor es in zwei Teile gespalten wurde? Wie lebte man in der DDR um 1950, wenn man 15 war und auf sich allein gestellt? All diese Fragen beschäftigten mich.

Und dann habe ich oft an „Hänsel und Gretel“ gedacht, das deutsche Märchen, in dem sich Bruder und Schwester zusammenschließen, um der Hexe zu entgehen. Was aber wäre geschehen, wenn Hänsel hätte Gretel verraten müssen, um davonzukommen…? Das ist die Frage, die „La patrie des frères Werner“ stellt: Was passiert, wenn sich zwei Brüder oder zwei Schwestern mit einer Diktatur konfrontiert sehen, hier der DDR – kann man akzeptieren, dass der andere, wenn er von eigenem Fleisch und Blut ist, einen verrät? All diese Fragen spitzen sich im zweiten Teil der Graphic Novel zu, als das historische Fußballspiel zwischen der BRD und der DDR im Juni 1974 beginnt. Da Deutschland seit zwei Jahrhunderten im Zentrum der europäischen Geschichte steht, erscheint es mir wesentlich, sich für seine Kultur, seine Widersprüche, seine Vielschichtigkeit, seine Triebkräfte zu interessieren, um den deutsch-französischen Motor zu stärken und zu schützen, wie er sich nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert hat. Gemeinsam sind wir Europa.

Sowohl „Marcel Grob“ als auch „Brüder Werner“ sind Bücher, die zwangsläufig mit viel Recherche verbunden sind, sowohl was die historischen Fakten als auch die visuellen Referenzen anbelangt. Wie haben Sie für die beiden Bücher recherchiert? Und wie lief die Zusammenarbeit mit Sébastian in diesem Punkt ab? Haben Sie ihm Archivmaterial vorgegeben, wie viel hat er selbst beigetragen?

Beim ersten Album arbeitete ich zunächst allein. Ich habe eine riesige Dokumentation angehäuft. Ich hatte Zugang zu Archiven, ich habe viel gelesen, ich habe auch den ganzen Weg von Marcel Grob noch einmal zurückgelegt, vom Elsass nach Stralsund, wo er in die Waffen-SS gesteckt wurde, nach Bologna, wo er stationiert war, dann Marzabotto, wo das Massaker an den italienischen Zivilisten stattfand, und schließlich an den Gardasee, wo er schwer verletzt in britische Gefangenschaft geriet. Vor dem Schreiben habe ich zwei Jahre damit verbracht, meine Quellen zusammenzutragen.

Seite aus „Das Spiel der Brüder Werner“ (Splitter Verlag)

Mit den Brüdern Werner war es etwas anders. Dafür habe ich ebenfalls viel gelesen, viele Dokumenten zu den zahlreichen Aspekten der Geschichte besorgt. Zum Beispiel ließ ich mich von den Arbeiten eines deutschen Historikers, Christopher Spatz, inspirieren, der sich viel mit den deutschen Wolfskindern beschäftigt hat, wie die Brüder Werner welche sind. Bei diesem zweiten Album hatten Sébastien und ich aber auch Unterstützung von einer Dokumentarin aus Leipzig, die uns eine große Hilfe gewesen ist. Ich wollte von Anfang an, dass auch jemand aus Deutschland zum Team gehört, und Klara Fröhlich ist bei ihrer Bilddokumentation sehr sorgfältig vorgegangen, sodass sich Sébastien ganz entspannt an die Zeichnungen setzen konnte, wobei er sich die Wirklichkeit natürlich in künstlerischer Art und Weise aneignete, aber auf der Grundlage sehr solider Informationen.

Ihre Geschichte beginnt 1945 im kriegszerstörten Deutschland mit dem Bruderpaar Konrad und Andreas Werner, zwei Waisenkindern und Opfern des Nazi-Terrors. Die beiden leben auf der Straße wie Tausende Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Phänomen der sogenannten „Wolfskinder“, der Kriegswaisen, die Monate, manchmal Jahre auf sich allein gestellt überlebt haben, ist auch in Deutschland kaum bekannt. Was hat Sie an diesem Aspekt der deutschen Geschichte interessiert?

Ich glaube, ich bin darauf schon ein wenig in meiner Antwort auf die dritte Frage eingegangen, aber ich kann noch hinzufügen, dass ich einen Spiegeleffekt erreichen wollte zwischen dem tragischen Schicksal meines Großonkels Marcel Grob und den Werner-Brüdern (fiktiven, aber der Wirklichkeit nachempfundenen Figuren), die bei Kriegsende ungefähr im selben Alter sind: eine europäische Jugend unter dem Dröhnen totalitärer Ideologien. Ich mag diesen Aspekt eines Diptychons, den die beiden Alben nebeneinander darstellen. Es geht nicht um Frankreich oder Deutschland, es geht um die Jugend Europas. Ich wünsche mir, den Lauf der Geschichte auf der Ebene der Menschen zu erfassen, Männer und Frauen. Was die Wolfskinder betrifft, wie geht ein von Nationalsozialismus und Krieg verwüstetes Land damit um, dass es 1945 zwei Millionen Waisenkinder hinterlassen hat? Ich nehme an, dass dies eine tiefe Wunde in der deutschen Gesellschaft darstellt. Auch das ist etwas, das mich verfolgt und beschäftigt.

In Ihrer Geschichte verweisen Sie unter anderem auf das „Wunder von Bern“, Deutschlands Titelsieg 1954, der dem Land wieder neues Selbstvertrauen gegeben hat und oft im Zusammenhang mit dem Wirtschaftswunder der 1950er und 1960er Jahre genannt wird. Welche politische und kulturelle Bedeutung hatte denn das Weltmeisterschaftsspiel 1974 für die Menschen in West- und Ostdeutschland?

Trotz Berliner Mauer und dem Kontext des Kalten Krieges, trotz der Guillaume-Affäre und dem Rücktritt von Bundeskanzler Brandt im Mai 1974, und trotz der Spannungen zwischen den beiden deutschen Bruderstaaten habe ich das Gefühl, dass dieses Spiel von 1974 bereits eine Art von Aussöhnung andeutet. Sein Verdienst besteht darin, dass es stattgefunden hat und 90 Minuten lang Deutsche aus Ost und West auf demselben Platz standen. Dieses Match war angespannt, aber man begegnete sich voller Respekt, trotz des Fraternisierungsverbots vonseiten der Stasi. Es heißt sogar, Paul Breitner und Jürgen Sparwasser hätten auf dem Kabinengang die Trikots getauscht. Und fügen wir noch hinzu, dass das Spiel auch etwas Irreales hatte, so sehr, dass es der Bevölkerung in den beiden Ländern in gewisser Weise sogar leicht grotesk vorgekommen sein mag. Vielleicht hat es tatsächlich einen Blick auf eine Palette an Möglichkeiten für ein Danach eröffnet.

Seite aus „Das Spiel der Brüder Werner“ (Splitter Verlag)

Im Mittelpunkt Ihrer Geschichte steht die historisch authentische „Operation Leder“ der Stasi – die von Erich Mielke persönlich überwachte Infiltration und die sogenannte Absicherung des WM-Spiels 1974 in Hamburg. Wie viel von der tatsächlichen Operation Leder haben Sie in Ihre Geschichte eingebaut? Was haben Sie dazuerfunden?

Ja, die „Operation Leder“ ist vollkommen echt. Seit Januar 1974, nach der Auslosung, die die historische Begegnung der beiden deutschen Staaten ankündigte, verlangte Erich Honecker von Erich Mielke, das Spiel „abzusichern“, was vor allem hieß sicherzustellen, dass kein Mitglied der ostdeutschen Delegation während dieser WM in den Westen wechselte. Diese Operation wurde von den obersten Behörden akkurat befolgt. Mehrere Stasi-Agenten wurden in die Mannschaft eingeschleust und bestimmte Spieler als Informanten genutzt. Und außerdem, auch wenn die Stasi-Unterlagen das nicht belegen, kann man sich ausmalen, dass diese Spionageaktion auch darauf abzielte, soweit möglich den Spielausgang zu beeinflussen; und selbst wenn keine Spur in den Archiven bestätigt, dass es der Stasi gelungen wäre, die Mannschaft der BRD zu infiltrieren, so kann man sich dies immerhin vorstellen. Ich erinnere daran, dass Günter Guillaume, der engste Mitarbeiter Willy Brandts, ein Stasi-Agent war. Deshalb habe ich mich dafür entschieden, Konrad Werner in das Betreuer-Team der BRD einzuschleusen, sicher ein nützlicher Einfall für die dramaturgische Spannung der Erzählung, aber zugleich auch plausibel in der Realität.

Was den fußballhistorischen Aspekt anbelangt konzentrieren Sie sich auf zwei reale Figuren, den westdeutschen Spieler Paul Breitner und den ostdeutschen Nationalspieler Jürgen Sparwasser, dessen Tor das Spiel entschieden hat. Vor allem Paul Breitner und seinem Konflikt mit dem DFB wegen Spielerprämien räumen Sie viel inhaltlichen Platz ein. Warum haben Sie speziell diese beiden Spieler als Nebenfiguren für Ihre Geschichte ausgesucht? Und war es eine große Herausforderung, ihre Dialoge und Szenen zu skripten, im Unterschied zu den fiktionalen Figuren?

Zuallererst muss ich sagen, dass mich diese Männer sehr berühren. Die beiden Spieler sind wesentlich für die Darstellung der Gegensätze der damaligen Zeit und in der Erzählung. Paul Breitner repräsentiert einen Teil der westdeutschen Jugend in den 60er- und 70er-Jahren, antimilitaristisch, Vietnamkriegsgegner, hedonistisch, Afrolook wie Angela Davis, ein Lebemann – es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Bundesrepublik keine monolithische, bürgerlich-konservative Gesellschaft war. Auf der anderen Seite verkörpert Jürgen Sparwasser eine ostdeutsche Jugend, die zweifelt; ein Junge, der 1954 sechs Jahre alt war und geprägt vom ersten Sieg der BRD bei einer Fußballweltmeisterschaft, ein Mann, der sich Fragen stellte zur Wirklichkeit des Systems im Osten, und gleichzeitig erzielte er den Siegtreffer für die DDR. Er wurde zum Helden des Arbeiterfußballs, der über den Fußball der Bourgeoisie triumphierte. Beide hatten mit inneren Konflikten zu kämpfen. Sie zeigen, dass in einer vermeintlich dualistischen Zeit auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Widersprüche existierten. Ich finde das spannend.

Seite aus „Das Spiel der Brüder Werner“ (Splitter Verlag)

Das eigentliche Spiel findet im Buch nur auf wenigen Seiten statt, aber diese sind dafür umso dynamischer und aufregender in Szene gesetzt. Wie geht man vor, wenn man das Skript für etwas so Kinetisches wie ein Fußballspiel schreiben muss?

Das war eine echte Herausforderung. Sébastien Goethals hat etwas ganz Neues für all diejenigen gemacht, die das Spektakel eines Fußballspiels im Fernsehen lieben. Er hat die Kamera, in seinem Fall Stift und Feder, auf den Platz gestellt, und wir erleben dieses Spiel, wie es noch nie zuvor jemand gesehen hat. Wir sind Zuschauer auf dem Rasen, ganz nah dran an den Spielern, inmitten des Spiels auf Ballhöhe, und das bei einer Bildgestaltung, die mitreißt, so wie Sébastien sie angelegt hat. Darin beabsichtigen wir, den Rest der Erzählung anklingen zu lassen, wo wir uns systematisch so nah wie möglich den Figuren annähern, insbesondere den Brüdern Werner. Die Leserinnen und Leser kommen mit Breitner und Sparwasser so eng in Kontakt wie mit Andreas und Konrad.

Auf der symbolischen Ebene erzählt „Das Spiel der Brüder Werner“ eine Geschichte über Spaltung (zwischen zwei Nationen und zwei Geschwistern) und der Suche nach Vergebung und Einigkeit. Was hat Sie an diesen Aspekten der Geschichte des geteilten Deutschlands interessiert? Was können wir aus dieser Geschichte lernen, vor allem in Bezug auf das aktuelle politische Klima der ideologischen Spaltungen in der EU?

Gegen Ende von „Easy Rider“ sagt Dennis Hopper zu Henry Fonda: „Geschafft, geschafft, wir haben es geschafft. Wir sind reich, wir sind frei, Mister. Darum dreht sich doch alles.“ Und Peter Fonda antwortet: „Nein, Mann, wir haben´s vermasselt…“ („We blew it!“), was bedeutet, unsere Ideale sind zusammengebrochen, unser Horizont ist verschwunden. Ich zitiere diesen Dialog, weil es nach dem Fall der Berliner Mauer, nach den Jahrzehnten der europäischen Teilung einen Horizont zu erobern galt, und mir scheint, wir sind gescheitert. Vielleicht weil wir im Westen gedacht haben, wir hätten mit unserem Widerstand gegen den Osten gewonnen, aber wo stehen wir heute? Haben wir nicht alles vermasselt? Wir müssen den Fall der Mauer neu betrachten, unser Konzept der Deregulierung ist an seine Grenzen gestoßen. Die Unzulänglichkeiten und blinden Flecken der Europäischen Union sind offensichtlich, aber das darf nicht die Grundlagen gefährden, auf denen sie gegründet wurde. Wir haben es geschafft, uns auszusöhnen. Wir müssen das europäische Projekt neu starten, und das kann nicht ohne Deutschland geschehen, das zentrale Land in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa. Wir im Westen müssen eine gemeinsame Vorstellung entwerfen. Europa ist ein attraktiver, reizvoller Kontinent, und wir haben einen Kontinent der Langeweile daraus gemacht. Im Osten breitet sich der anti-europäische Diskurs aus, die Gegner sind klar erkennbar, Populismen grassieren. Es ist an uns, eine andere Geschichte dagegenzusetzen, eine anspornende, einigende Erzählung vom Aufbau und nicht vom Zusammenbruch.

Welches Feedback haben Sie in Frankreich auf Ihr Buch erfahren? Interessiert sich die französische Leserschaft für deutsche Geschichte und deutschen Sport?

Das Buch ist in Frankreich Ende August erschienen, und wir haben einen exzellenten Start erlebt. Ich bin überrascht und beruhigt von dem Interesse, das das französische Publikum für diesen Abschnitt der Geschichte aufbringt. Wir sind alle mit der DDR und der BRD in unserer Vorstellungswelt aufgewachsen, heute scheint es mir an der Zeit zu sein, die beiden Länder näher zu erkunden, um zu verstehen, wer wir sind und woher wir kommen. Marc Bloch, ein bedeutender französischer Historiker, der 1944 von der Gestapo erschossen wurde, hat wiederholt gesagt, Geschichte sei ein Bemühen, zu einem besseren Verständnis zu gelangen und empfänglich zu sein, was die Unterschiede zwischen den Menschen betrifft. Ich hege die Hoffnung, dass wir bereit sind für das Bemühen.

Welches Projekt nehmen Sie als nächstes in Angriff? Setzen Sie die Zusammenarbeit mit Sébastian Goethals fort?

Ja, es gibt ein drittes Projekt mit Sébastien Goethals, was uns sehr freut. Es handelt sich wieder um eine historische Graphic Novel, die sich auf die Wirklichkeit bezieht, und wieder um eine Geschichte aus dem 20. Jahrhundert, denn das ist das, aus dem wir kommen. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, denn ein Szenario ist wie ein Geheimnis, man darf es nicht zu sehr enthüllen, sonst hat man keine Lust mehr, es zu erzählen…

Seite aus „Das Spiel der Brüder Werner“ (Splitter Verlag)