Wenn Michael Myers Urlaub macht

Bild aus "Gideon Falls" (Splitter Verlag)

Der in Düsseldorf lebende Comickünstler und Illustrator Jurek Malottke hat im vergangenen Jahr mit „Das Fleisch der Vielen“ bei Splitter seine erste Horror-Graphic-Novel vorgelegt und entführt uns darin in Deutschlands größtes Spukhaus, das Grand Hotel Astoria in Leipzig. Die mitunter expressionistische Gestaltung dieser auf einer Kurzgeschichte Kai Meyers basierenden Erzählung zeugte bereits von seiner großen Affinität zum Horror-Genre. Für Comic.de hat Jurek Malottke ein paar Horrorcomic-Empfehlungen zusammengestellt – schließlich ist heute Halloween!

„Black Hole“ von Charles Burns
Charles Burns kennen manche von euch vielleicht als die Inspiration des „Fever Ray“-Albumcovers oder als Namensgeber des C. M. Burns aus den Simpsons. „Black Hole“ besteht eigentlich aus zwei Geschichten, die sich im Laufe der Erzählung mehrere Male kurz verzahnen. Es sind zwei Liebesgeschichten, eigentlich konventionell erzählt, aus dem Umfeld einer Teenagerclique in den USA, in den Siebzigern.

Viel interessanter ist allerdings die Geschlechtskrankheit, die den Jugendlichen das Leben schwermacht. Sie entstellt jeden, der sich ansteckt, und zwar auf kreative und vielfältige Weise. Da gibt es etwa ein Mädchen, das sich im Wald häutet. Es gibt einen Jungen mit Hasenscharte. Einem anderen wächst ein gruseliger zweiter Mund am Kehlkopf, der nachts spricht. Und dann ist da natürlich die Frau mit dem Eidechsenschwanz, den sie abwerfen kann.

Einen besonderen Augenmerk verdienen auch Burns‘ Zeichnungen. Welchem Dämon hat er seine Seele versprochen, um diesen unmenschlichen Strich zu bekommen? Jawohl: Diese Zeichnungen sind nicht am Computer entstanden. Zitat Burns: „So zeichne ich eben.“ Dann wäre das ja geklärt.

„The Upturned Stone“ von Scott Hampton
Das hier ist eine düstere, düstere Geschichte. Und es ist höchste Zeit, dass die wieder ausgegraben wird, wo doch „It“ und „Stranger Things“ im Moment solche Erfolge feiern. Auch „The Upturned Stone“ spielt in schönster herbstlicher Halloween-Kulisse und folgt einer Gruppe Schulkinder.

Ein offensichtliches Verkaufsargument sind die Bilder: Ich kann die Herbstluft fast schon riechen, wenn ich diese tollen, stimmungsvollen Aquarelle sehe. Dabei arbeitet Scott Hampton sehr effektiv und nutzt kreative Bildausschnitte und großzügige Schwarzflächen, um die Geschichte zu erzählen. Dadurch war „The Upturned Stone“ ein maßgeblicher Einfluss während meiner Arbeit an „Das Fleisch der Vielen“, das (Anekdote!) Scott Hampton sogar gelesen hat! Aber dazu später mehr.

Zur Geschichte: Daves Mutter hat ihn beauftragt, für zwei Dollar einen Kürbis zu kaufen. Aber natürlich wollen er und seine Freunde das Geld lieber für Comics ausgeben. Außerdem sind zwei Dollar viel zu viel für einen dämlichen Kürbis. Also folgen sie George, der nämlich weiß, wo der größte Kürbis aller Zeiten wächst. Dass dieser Ort nun ausgerechnet das Grab des namenlosen Jungen ist, der bei einem schaurigen, ungelösten Mord vor einiger Zeit ums Leben kam, lässt sie kurz zögern. Dennoch nehmen sie den Kürbis mit, der ihnen von Daves Mutter dann zu Halloween serviert wird. Und in der Nacht darauf haben sie alle denselben Albtraum.

Übrigens zeichnet Scott Hampton im Moment „American Gods“ von Neil Gaiman. Dadurch bin ich auf ihn aufmerksam geworden!

„Shiver“ von Junji Ito
Junji Ito ist der König des Horror im Bereich Manga und Comic. Keine Frage. Auf Youtube finden sich Video-Essays noch und nöcher darüber, warum seine Comics (Ich unterscheide nicht mehr zwischen Manga und Comic. Verzeiht mir / Hindert mich doch!) so unheimlich sind. Die meisten Analysen fokussieren sich auf die Page Turner, also die Entsprechung eines Jump Scare im Comic. Und die sind natürlich auch sehr effektiv bei Ito. Viele von euch kennen sicher das Bild der Kopf-Luftballons oder den Lehrer, der, halb Schnecke, in die Klasse kriecht, oder den Augapfel, der in einer großen Spirale auf der Stirn eines Mädchens verschwindet. Diese Bilder sind grotesk, ekelhaft, geradezu schockierend. Aber ist das wirklich alles, was den Horror in einem Ito-Comic ausmacht?

Ich empfehle als Beispiel die ersten drei Seiten der Kurzgeschichte „Fashion Model“ an. Meiner Meinung nach ist die beklemmende Atmosphäre vom ersten Panel an spürbar. Und es steigert sich, obwohl nichts passiert. Was da am Werke ist, ist etwas viel subtileres als ein plumper Page Turner. Aber ich will jetzt keine Ito-Dissertation verfassen.

Seite aus „Shiver“ (VIZ Media)

„Shiver“ ist eine Sammlung von Kurzgeschichten, und ich lege sie euch ans Herz noch vor seinen umfangreicheren und berühmteren Werken „Gyo“, „Tomie“ und „Uzumaki“. Ich finde, Itos Horror funktioniert in Kurzgeschichten am besten, insbesondere bei „Fashion Model“, „Hanging Blimp“ und „The Long Dream“. Dies ist nur eine von vielen solcher Anthologien; Junji Ito zeichnet seine Horrorgeschichten schon seit den späten Achtzigern.

Also, falls das bisher nicht deutlich wurde: Unheimlicher kann ein Comic nicht sein! Das sind Geschichten, die mehrere Lagen Gänsehaut hinterlassen, die verwirren und verstören, und mich die geistige Gesundheit von Junji Ito infrage stellen lassen.

„Das Fleisch der Vielen“ von Kai Meyer und mir

Volle Transparenz: Das hier ist mein eigener Comic, und den werde ich natürlich nicht mit dem gleichen Impetus empfehlen, mit dem ich Charles Burns oder Junji Ito empfohlen habe. Die sind da in einer ganz anderen Liga! Aber wir waren letztes Jahr nur knapp zu spät dran, um den Comic zu Halloween rauszubringen. Darum möchte ich das dieses Jahr gerne nachholen. Und vielleicht hat der ein oder andere von euch ja noch eine Gelegenheit gesucht, den Band mal in die Hand zu nehmen.

Und da der Comic jetzt bald sein Einjähriges feiert, sind ein paar Bedankungen längst überfällig. Danke an Kai Meyer, der einem unbekannten Zeichner ohne Comicerfahrung (mir) seine unheimlichste Spukgeschichte anvertraut hat und mir seitdem ein Vorbild und ein Freund geworden ist. Danke an Horst und Dirk vom Splitter Verlag, die zu jedem Zeitpunkt ungefähr dreimal überzeugter von mir waren als ich selbst. Danke an Helena Behle, ohne die hier sowieso überhaupt gar nichts gelaufen wäre, weil Kai und ich uns dann niemals kennengelernt hätten. Danke an Hella von Sinnen und „Der ComicTal“k für die tolle Besprechung. Danke an meine Freundin Luisa, die mich wieder aufbaut, wenn ich Zweifel habe. Danke natürlich an alle, die das Buch gelesen haben! Und danke auch an alle anderen dafür, dass ihr die Entstehung des Buches nicht verhindert habt!

„Große Fragen“ von Anders Nilsen

Dieser Comic ist etwas schwierig zu beschreiben. Zum einen, weil über die mehr als sechshundert Seiten des Buchs eigentlich wenig passiert. Zum anderen fällt mir einfach kein anderer vergleichbarer Comic ein. Die Peanuts wurden schon häufiger genannt, aber der Vergleich ist irreführend in vielerlei Hinsicht. Mit Horror hat es wiederum auch nur im allerentferntesten Sinne zu tun, auch wenn lange Passagen sehr morbid, tragisch und deprimierend daherkommen. In einer Zeitungskritik zu dem Comic las ich mal den Begriff Graphic Poetry als Pendant zur Graphic Novel. Das trifft es eigentlich ganz gut.

Ja, aber was passiert denn nun? Im Grunde haben wir es mit einem Haufen Vögel zu tun (mit klangvollen Namen wie Algernon, Ulysses, Zwingly und Alma), die versuchen, ein Flugzeugunglück zu verstehen. Es wird schnell klar, wie aussichtslos das ist: Das Flugzeug halten sie für einen großen Vogel, die Fliegerbome für ein Ei, den Piloten für ein Küken. Sie sind also vollkommen auf der falschen Fährte, und sie haben keine andere Möglichkeit, als alle Begebenheiten in ihren kleinen Vogelhorizont einzuordnen. Und so beobachtet man als Leser, wie die ahnungslosen Vögel 600 Seiten lang im Dunkeln tappen.

Ich mag einfach diese irren Experimente, wenn nichts passiert, und wenn sich viel Zeit für Pausen und Atmosphäre genommen wird. „Große Fragen“ (Deutsch beim Atrium Verlag, antiquarisch erhältlich) ist trotz allem bei weitem nicht der prätentiöse Nischencomic, nach dem er zunächst aussieht. Nein: Anders Nilsen hatte man mal gefragt, was er mit dem Buch bei seinen Lesern auslösen wollte, und er sagte: „Dass sie gut unterhalten werden.“ So!

„Hellboy: The Corpse“ von Mike Mignola und Dave Stewart

Die „Hellboy“-Verfilmungen lassen es nicht unbedingt erahnen, aber die Comic-Vorlage ist ein allseits bekannter moderner Klassiker mit vielen künstlerischen und subtilen (und einigen nicht so künstlerischen und nicht so subtilen) Qualitäten. Und die Episode, die ich euch gerne empfehlen möchte, ist nicht nur meine Lieblingsgeschichte aus dem „Hellboy“-Universum, sondern auch ein persönlicher Favorit von Mike Mignola selbst. Und sie enthält eine meiner Lieblings-Comicseiten überhaupt!

Seite aus „Hellboy: The Corpse“ (Dark Horse)

Seht nur, wie elegant und klar diese Seite komponiert ist, und wie einfach sich Inhalt und Rhythmus innerhalb von Augenblicken erfassen lassen. Es funktioniert so gut und sieht dabei derart mühelos aus, dass ich noch nicht einmal neidisch bin. Ich kann mich eigentlich nur verneigen und mich seufzend zurück an meinen Zeichentisch begeben.

Zur Geschichte: Hellboy ist in Irland, wo Gnome ein Baby entführt haben. Um das Baby zurückzubringen, muss er ein gutes, christliches Grab für den alten Tam O’Clannie aus Killarney finden, für den hat es sich nämlich ausgetanzt.

Wie Neil Gaiman verbindet auch Mike Mignola in „Hellboy“ mythologische Elemente aus der ganzen Welt zu einem eigenen, reichhaltigen Comicuniversum. Die Geschichten folgen häufig dem gleichen Schema, was mich persönlich etwas stört. Und gerade deshalb finde ich die kürzeren Episoden, und insbesondere „The Corpse“, so klasse: Gut portioniert und präsentiert mit vornehmer Zurückhaltung.

„Silence“ von Didier Comès

Als ich mir vergangene Woche überlegte, welche Bücher ich zu Halloween vorstellen möchte, erinnerte ich mich an einen obskuren Schwarz-Weiß-Comic aus der Bücherei. Einen dieser Glücksgriffe, dieser Impuls-Ausleihen, die ich aber sowieso nie bereue, weil in der Bücherei ja bekanntlich alles quasi kostenlos ist. Der Comic hatte mich angesprochen, weil der Zeichenstil mich an Hugo Pratt erinnerte, dessen „Corto Maltese“ ich kurz vorher für mich entdeckt hatte. Und so nahm ich den alten, abgegriffenen Band mit nach Hause, noch unwissend, was für einen Schatz ich ausgegraben hatte.

Jedenfalls, an den erinnerte ich mich letzte Woche. Allerdings waren meine Erinnerungen zu lückenhaft, als dass ich ihn hätte vorstellen können; selbst TItel und Autor waren mir entfallen. Also ging ich erneut in die Bücherei. Ich wusste noch, wie der Comic aussah und in welchem Regal ich ihn damals gefunden hatte (mein dämliches Gehirn – daran erinnert es sich natürlich). Als ich ihn dort und auch in den anderen Regalen nicht fand, durchsuchte ich den elektronischen Comickatalog, erst mit den Stichworten „Außenseiter“ und „Hexe“, dann ohne … nichts.

Zuhause war ich dann in der Lage, mit den Suchbegriffen über das Internet den Namen des Comics und des Zeichners herauszufinden, mit denen ich dann wiederum den Online-Katalog der Bücherei fütterte, wiederum ohne Ergebnis. Der Comic war also anscheinend aus der Bücherei verschwunden – oder hatte ich alles nur geträumt??

Silence ist der titelgebende Antiheld, ein naiver Dorftrottel, ein Außenseiter, aus dessen Perspektive die Geschichte größtenteils erzählt wird. In seiner Dorfgemeinschaft ist er nicht gut aufgehoben, denn denen ist alles Fremde unheimlich und sie misstrauen dem harmlosen Idioten, machen ihn zum Sündenbock und grenzen ihn aus. Also verbündet er sich mit der „Hexe“, einer weiteren Außgestoßenen. Die hat mit der Dorfgemeinschaft noch eine eigene Rechnung offen und, ich will mal sagen, so nimmt das Unheil seinen Lauf.

Das ist mal eine feine Halloweenlektüre vor der Naturkulisse der Ardennen, mit grausamen Dorfgeheimnissen, Hexerei und Rache. Berührend und ernüchternd ist es, zu beobachten, wie die Unschuld von Silence durch die Dummheit und die Feindseligkeit des Dorfes zerstört wird. Und jetzt sind seit dem Erscheinen des Comics dreißig Jahre vergangen, und das Thema ist noch immer nicht überwunden, im Gegenteil!

Also Leute, lest den Comic und seid nett zu euren Mitmenschen.

„Through the Woods“ von Emily Carroll

Diese Empfehlung drängt sich zu Halloween so sehr auf, dass sie mir fast peinlich ist. Deswegen hoffe ich einfach, dass viele unter euch sind, die Emily Carroll noch nicht kennen.

„Through the Woods“ ist eine Sammlung haarsträubender Kurzgeschichten dieser begnadeten kanadischen Autorin und Zeichnerin, die mit dem Webcomic „His face all red“ einen richtigen viralen Erfolg hatte, ähnlich wie „The Enigma of Amigara Fault“ von Junji Ito.

Grundsätzlich dürfte Junji Ito eine große Inspirationsquelle für Emily Carroll gewesen sein. Aber ihr Zeichenstil ist bunt und stellenweise fast kindlich, ihr Seitenlayout frei, ihr Lettering ausdrucksstark, ihr Storytelling märchenhaft und ihre Sprache lyrisch. Man könnte fast glauben, man läse eine Poe-Adaption, oder eine zeitgemäß illustrierte Anthologie schauerlicher Folklore.

Das Leseerlebnis ist ein steter Seiltanz zwischen gemütlichem Schrecken und blankem Horror. Wie häufig die Grenze überschritten wird, dürfte dabei von jedem Leser selbst abhängen. Für mich ereignete sich der erste Grenzüberschritt gleich auf Seite zwei der ersten Geschichte, meine Güte!

Fünf von fünf Gruseligkeitsschädeln, eine Skala, die jetzt zum Schluss der Empfehlungsreihe noch dringend gebraucht wird, sonst muss ich befürchten, dass jemand von euch durch die hübschen Zeichnungen in die Irre geführt wird und mich für irgendwelche Albträume verantwortlich macht.

Mein Tipp für Interessierte: Wartet, bis die Sonne untergegangen ist und manövriert geradewegs auf Emilys Website. „His face all red“ ist dort nach wie vor zu lesen, wie auch viele andere ihrer furchtbaren und schrecklichen Geschichten.