Kai Meyer und Comic-Debütant Jurek Malottke machen aus dem geschichtsträchtigen Leipziger Grand Hotel Astoria einen expressionistisch in Szene gesetzten Horrorschauplatz.
Leipzig. Auf dem Willy-Brandt-Platz gerät eine Demo außer Kontrolle. Auf der einen Seite stehen Neonazis, auf der anderen die Antifa. Schließlich eskaliert die Gewalt, Straßenschlachten entbrennen, Chaos herrscht. Inmitten des Durcheinanders fliehen Tim und Jana in das verlassene Grand Hotel Astoria. Tim ist mittellos und gehört der Hausbesetzer-Szene an, seine Freundin Jana hat eine kleine Wohnung. Und eine kleine Arbeit. Wie beide in dem seit Jahrzehnten leerstehenden, riesigen Hotel – immerhin 350 Zimmer – gelandet sind, wissen sie selbst nicht so genau. Fest jedoch steht, dass sie nicht ohne weiteres wieder einen Weg nach draußen finden. Die Fenster sind verbarrikadiert und fest verschraubt, Düsternis herrscht im ganzen Gebäude. Die Suche nach einem Ausgang geht eher nach hinten los – buchstäblich –, denn die beiden dringen immer tiefer in das alte Gemäuer ein und stoßen bald auf Merkwürdigkeiten. Wieder und wieder sehen sie einen seltsamen, deformierten menschlichen Schatten und die Böden des Gebäudes scheinen mit Haaren übersät. Immer bedrohlicher und unübersichtlicher wird ihre Situation, je tiefer sie in das Hotel eindringen. Bis sie auf den blanken Horror treffen…

Kai Meyer (Autor), Jurek Malottke (Zeichner): „Das Fleisch der Vielen“.
Splitter Verlag, Bielefeld 2018. 96 Seiten. 19,80 Euro
Nach dem „Wolkenvolk“ und „Frostfeuer“ ist „Das Fleisch der Vielen“ die nächste Adaption einer Geschichte Kai Meyers im Splitter Verlag (es wird nicht die letzte bleiben). Diesmal als Einzelband. Die Story beginnt überfallartig und endet ebenso abrupt. Dazwischen kommt der Horror subtil, bis er frontal über Tim und Jana hereinbricht. Die Zeichnungen von Comic-Neuling Jurek Malottke sind natürlich düster und in dunklen Farbtönen gehalten. Die Bilder bleiben auch abstrakt, deutbar, wirken weniger über Details, sondern vielmehr über Stimmung und Atmosphäre. Eine abwechslungsreiche Panelstruktur mit überraschenden Perspektiven vertieft die ständige Bedrohungslage und macht den Band zu einer gelungenen Horror-Mär, die so unvermittelt aufhört, wie sie beginnt. Happy End inklusive? No way. Nach der Comic-Fassung ist die komplette Geschichte abgedruckt, was einen direkten wie interessanten Vergleich zwischen Vorlage und Adaption ermöglicht. Diverse Skizzen und Entwürfe runden den Band ab. Das Hotel Astoria in Leipzig wurde übrigens 1915 eröffnet und Ende 1996 geschlossen. Seitdem steht es leer. Eine Sanierung soll Mitte dieses Jahres endlich beginnen. Hoffentlich bekommen die Handwerker diesen Band vorher nicht zu lesen…
Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de
Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.