„Du bist nicht mehr der Meister des Suspense, sondern der Regisseur der Angst“, sagt Alma zu ihrem Mann Alfred Hitchcock. Es ist das Jahr 1960 und der Film „Psycho“ versetzt gerade das Kinopublikum weltweit in Angst und Schrecken. In dem biographischen Comic „Alfred Hitchcock 1 – Der Mann aus London“ stellen der Zeichner Dominique Hé und der Szenarist und Filmhistoriker Noël Simsolo gleich zu Beginn Szenen des berühmt-berüchtigten Duschmordes den vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen der Zuschauer gegenüber. Dieses der filmischen Montage verwandte Kompositionsprinzip mit seiner extremen Verdichtung charakterisiert auf der formalen Erzählebene die insgesamt sieben Kapitel des ersten Bandes, der den Lehrjahren des späteren Meisterregisseurs gewidmet ist. In parallel gesetzten Short Cuts, in Rückblenden und Erinnerungen an Dreharbeiten wechselt der schwarzweiß und mit klaren Konturen gezeichnete Comic nahtlos zwischen Vergangenheit und Gegenwart und schafft so auch fließende Übergänge zwischen imaginierten und realisierten Filmen sowie zwischen deren Produktion und Rezeption.
Die beiden französischen Autoren etablieren dieses vielschichtige, von doppeldeutigem Humor und zahlreichen Anspielungen grundierte Verfahren durch ein langes Gespräch, das Alfred Hitchcock im Sommer 1954 mit Cary Grant und Grace Kelly führt. Anlässlich der Dreharbeiten zum Film „Über den Dächern von Nizza“ sitzen die drei im Carlton Hotel von Cannes und widmen sich „vertraulichen Plaudereien“, in denen der Regisseur den beiden Schauspielern aus seinem Leben erzählt und dabei tiefen Einblick gewährt in seinen Charakter und seine Denkweise. Frühkindliche Angsterfahrungen, eine strenge katholische Erziehung sowie eine starke Mutterbindung machen den jungen „Hitch“ bald zum Außenseiter, was er durch übermäßiges Essen und einen ausgeprägten Hang zum Voyeurismus kompensiert. Daneben interessiert er sich für die Mördergeschichten der vermischten Nachrichten, besucht häufig und gerne das Crime Museum of Scotland Yard und entdeckt seine Leidenschaft für Theater und Kino.Mit seinem Eintritt in die amerikanische Filmproduktionsfirma Famous Players-Lasky, der späteren Paramount Pictures, wo Hitchcock auch seine Frau und ständige künstlerische Beraterin Alma Reville kennenlernt, vollzieht sich Schritt für Schritt eine Karriere, die von beharrlichem Ehrgeiz, aber auch von flexibler Anpassungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Der angehende Regisseur tummelt sich zunächst in verschiedenen Gewerken, macht sich schlau, vernetzt sich und entwickelt zunehmend selbstbewusster und dominanter bald eigene Ideen und Interessen. Inspiriert vom amerikanischen Film, vom deutschen Expressionismus und dem zeitgenössischen Theater, werden dem effizient und stets wirtschaftlich denkenden Kinoarbeiter Mitte der 1920er Jahre erste Regie-Aufträge anvertraut, denen Hitchcock immer erkennbarer seine persönliche Handschrift einschreibt. Am Übergang vom Stumm- zum Tonfilm zeigt sich der bald bekannteste und bestbezahlteste Regisseur Englands besonders erfinderisch und trickreich, wenn es darum geht, zu synchronisieren oder verschiedene Sprachversionen zu drehen.
Immer wieder visualisieren die beiden Comic-Autoren Hitchcocks Produktionsgeschichten und Filmerzählungen mittels Storyboards, Filmplakaten und vor allem Streiflichtern auf diverse Dreharbeiten, die den Meister in seinem Element zeigen. Wir erleben seinen abgründigen Humor, offene Anzüglichkeiten, listige Gemeinheiten und seinen Hang zum unverhohlenen Sadismus. Um die „wahre menschliche Natur zu offenbaren“, kultiviert Hitchcock das „Spiel mit dem Schein“ und eine Spannung, die möglichst lange die Dinge in der Schwebe hält. „Mich interessiert vor allem die Art, wie man eine Geschichte erzählt“, erklärt der Regisseur dem französischen Filmtheoretiker und Bewunderer André Bazin, der ihn am Set in Nizza besucht. Dieses Selbstverständnis als Autor mit einem persönlichen visuellen Stil macht ihn später zum erklärten Vorbild der Nouvelle Vague-Regisseure und dient ihm Ende der 1930er Jahre zugleich als Ausweis und Visitenkarte bei seinem Aufbruch in die Vereinigten Staaten: „Ich bin ein Künstler, der immer die gleiche Blume malt, aber jedes Mal etwas besser.“ Der sich in Vorbereitung befindende zweite Band dieser sehr anregend gezeichneten Künstlerbiographie träg deshalb den Titel „Der Meister des Suspense“.
Diese Kritik erschien zuerst am 27.02.2021 in der Rhein-Neckar-Zeitung.
Zu „Alfred Hitchcock“ gibt es hier eine weitere Kritik, hier ein Interview mit Noël Simsolo.
Wolfgang Nierlin, geboren 1965. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie in Heidelberg. Gedichtveröffentlichungen in den Zeitschriften metamorphosen und Van Goghs Ohr. Schreibt Film- und Literaturbesprechungen für Zeitungen (Rhein-Neckar-Zeitung, Mannheimer Morgen u. a.) sowie Fachzeitschriften (Filmbulletin, Filmgazette u. a.). Langjährige Mitarbeit im Programmrat des Heidelberger kommunalen Karlstorkinos.