Nowhere Lower – „Low“ und „The Walking Dead“

Panel aus "Low" (Image Comics / Splitter Verlag)

Endzeitstimmung ist der Zeitgeist, befeuert von Büchern wie „Losing Earth“, in dem Autor Nathaniel Rich das enorme, skandalöse Versagen ganzer Generationen von Erdenbewohnern nachzeichnet; oder durch Intellektuelle wie Jonathan Franzen, der im New Yorker schreibt: „If you’re younger than sixty, you have a good chance of witnessing the radical destabilization of life on earth […]. If you’re under thirty, you’re all but guaranteed to witness it.“

Offenlegung: Ich halte die derzeit angesagten Klimawarnungen für sehr glaubwürdig. Was soll ich als werdender Vater meinem Kind also sagen, wenn es mich eines Tages fragt: „Warum hast du mich in diese kaputte Welt geholt?“ Ja, warum eigentlich? Aus Egoismus? Oder aus dem Gottvertrauen heraus, alles werde am Ende gut?

Dieser schöne Planet ist dem Untergang geweiht (Image Comics / Splitter Verlag)

Dieselbe Fragen ist für Rick Remender und Greg Tocchini Ausgangspunkt für ihren Science-Fiction-Comic „Low“ (Deutsch bei Splitter). In losen Zeichnungen und starken Farben skizzieren die Comicproduzenten eine Unterwasserwelt, deren Schönheit im krassen Gegensatz zur Endzeitstimmung dieser Welt steht. Immerhin droht die Vernichtung des Planeten: „The sun expands, the radiation spreads… We nee a new planet.“ Kann wirklich nur noch ein vollständiger Neuanfang die Menschheit retten? Es braucht wohl eine gigantische Lösung für das ultimative Problem. Manche der Figuren können sich das schon gar nicht mehr vorstellen: „Enough daydreaming“, verwirft Johl die Rettungspläne seiner Ehefrau Stel, die nach einem neuen Heimatplaneten für die Menschheit sucht. Denn Johl ist Pragmatiker: „Today, i teach our girls to survive what’s coming.“

Johl ist einer von uns

Es ist in „Low“ nicht anders als in der wirklichen Welt: Stel und Johl kommen gar nicht erst dazu, die ganz große globale Krise zu lösen, bevor das tägliche Leben (der fernen Zukunft) dazwischen spielt: Johl und Stels Kinder brauchen die ganze Aufmerksamkeit ihrer Eltern. Im wirklichen Leben lenken uns Kinderkrankheiten, Schulprobleme und die drohende Pubertät von der Klimaapokalypse ab; in „Low“ kidnappen Pirat_innen die Mädchen Della und Tajo. Hier wie dort geht Familie immer vor. Die Rettung des Planeten wird erst mal vertagt.

Finden Johl und Stel genug Kraft, nicht nur ihre Töchter, sondern die ganze Menschheit zu retten? Nach Heft 1 der Serie ist das alles andere als sicher – deshalb ist die Ausgabe auch ein wirklich Start für die Story. „Low“ ist tatsächlich binge-bar. Klar ist dabei: Wenn Johl und Stel Erfolg haben sollten, dann müssen sie veritable Übereltern sein. Wir ganz normalen (werdenden) Eltern halten da nicht mit.

Das Schlimmste, was man Eltern antun kann (Image Comics / Splitter Verlag)

Der berühmteste Survivor

Die Welt geht unter. Und wer denkt an die Kinder? Neben Johl und Stel auch der bekannteste Survivor im US-amerikanischen Comic: Rick Grimes, Protagonist von „The Walking Dead“. Rick ist Familienmensch durch und durch: Ohne zu zögern folgt er seinem väterlichen Impuls, als er aus dem Koma heraus im Zombie-Armageddon erwacht. Zielstrebig findet er innerhalb weniger Hefte seine verlorengegangene Familie. Erst jetzt beginnt der eigentliche Megaplot von „Walking Dead“; Ricks kleine Odyssee ist nur das Vorspiel, in der Rückschau wird klar, dass es in dem Comic immer und vor allem um Familie ging. Um seine Frau Lori und das Baby Judith, aber vor allem um Sohn Carl. Familie ist in „Walking Dead“ die Gemeinschaft sich Liebender, die in der Krise untrennbar zusammenwachsen. Wenn nichts mehr sicher ist – in „Walking Dead“ kann bekanntlich bis zum Schluss wirklich jeder sterben –, wenn Loyalitäten, Moral, Menschlichkeit im Laufe der Handlung verhandelbar werden, dann bleibt doch eines immer bestehen: Familie.

Warnung: Spoiler

Über 193 Hefte hinweg folgen Autor Robert Kirkman und seine Zeichner Tony Moore & Charlie Adlard auf zahlreichen Umwegen dem Plot ihres Comics. Aber das Ziel ist lange klar. Kirkman beschreibt es in seinem Abschiedsbrief an die Leser_innen des letzten Hefts: „[S]hortly after I scrapped that [first] planned ending [ca. Ausgabe 100] and decided to keep going, I came up with pretty much the exact ending of this issue [193], which I felt was much more fitting and rewarding.“ (Spoiler folgen, seid noch mal gewarnt.)

Ende gut… (Image Comics / Cross Cult)

Dieses Ende zeigt Carl Grimes mit seiner Tochter Andrea auf dem Schoß. Gemeinsam sitzen sie in einem Schaukelstuhl und lesen eine Gutenachtgeschichte. Das übrige Bild ist einfach nur weiß, denn es geht um Vater und Tochter, die einander ganz nah sind und in ihrer Zweisamkeit aus der übrigen Welt und ihrer fürchterlichen, zum Zeitpunkt der Handlung historischen Apokalypse herausgelöst wurden. Es ist ein arkadischer, perfekter Augenblick: „That the world is fixed… and at peace, that in some ways it’s even better than before… that’s meaningful“, resümiert Kirkman. „And to see Carl in that rocking chair, reading happily to his daughter, to know that’s the life Rick wanted him to have…“

Dieses Ende adelt „The Walking Dead“, hebt den Comic vom Popkultur-Phänomen in den Stand eines literarischen Werks. Die Familien-Idylle, der utopische Ausblick ist ungefilterter, unerschütterlicher Optimismus, auf den auch Rick Remender hinaus will: „’Low‘ is a story about one woman’s [Stel’s] eternal optimism,“ schreibt Remender im Nachwort zur ersten Ausgabe, „to burden the sorrows and the crushing weight of a world without hope.“

Der Weltuntergang – in „Walking Dead“, in „Low“ und in unserer wirklichen Welt – scheint unabwendbar. Familie kann helfen, die Konsequenzen zu ertragen, die sich daraus ergeben. Manchmal gibt Familie dem eigenen Leben dann einen neuen Sinn. Beziehungen werden enger, vertrauens- und liebevoller. Für manche Menschen kann dieses Leben besser sein als ihr altes, selbst wenn die Welt um sie herum vor die Hunde geht. Für (werdende) Eltern ist das vielleicht ein Trost. Unsere Kinder könnten das natürlich auch anders sehen.

Jakob Kibala und seine Partnerin erwarten ihr erstes Kind. Jakobs erstes Baby kam 2019 zur Welt und heißt „Wissen und Erschließen“ über die Batman-Comics von Grant Morrison und „The League of Extraordinary Gentlemen“ (Ch. A. Bachmann Verlag). Auf Instagram bloggt er über die „X-Men“-Comics der 1990er Jahre.