„Weißt du, wenn ich Albträume habe, erzähle ich sie Mama und danach geht’s viel besser. Willst du ihn mir erzählen?“ Nach dieser Frage bricht Großmutter Dounia ihr jahrzehntelanges Schweigen und erzählt ihrer kleinen Enkelin Elsa, wovon sie selbst dem eigenen Sohn nichts sagen wollte: ihre Geschichte als jüdisches Mädchen unter der Vichy-Regierung. Spät nachts, vorm Kaminfeuer, auf Omas Schoß offenbart sich Elsa der Lebensbericht als Erzählung von einem Land far, far away.
1940 wird die Ausgrenzung aller Juden aus dem Berufsleben politisch vollzogen. Warum die Menschen „keine Juden mochten“, kann Elsa dem wütenden Kind nicht erklären. Diese Kapitulation vor der brutalen Realität ähnelt dem einstigen Versuch von Elsas Vater, gegenüber der Tochter den David- als Sheriffstern spielerisch zu verharmlosen. Aber dies ist nicht die Märchenwelt Roberto Benignis. Die Demütigungen in der Schule zeigen Elsa schnell, dass sie nun eine Außenseiterin ohne Freunde und ohne Rechte ist. Weil es sich bei „Das versteckte Kind“ um einen Kindercomic handelt, verlässt er die naive Perspektive niemals. Die rafle du Vel’ d’Hiv (die größte, 1942 durchgeführte Razzia gegen die Juden in Paris), die daraus folgende Deportation der Eltern Elsas, schließlich die Flucht auf einen Bauernhof in der Provinz, wo Elsa bis zum Ende des Krieges zusammen mit ihrer mütterlichen Nachbarin und der Hofbesitzerin lebt – all diese Ereignisse werden nie so wirkmächtig, dass sie dem hilflosen Versuch, ein kindliches Idyll inmitten der NS-Besatzung aufrechtzuerhalten, schaden könnten. Das heißt, Szenarist Loic Dauvillier erlaubt sich die Freiheit zur historischen Lücke und Ungenauigkeit: keine Konzentrationslager, keine Toten, kaum politische Zusammenhänge und nur wenig Gewalt.Zeichner Marc Lizano übersetzt diese Zurückhaltung ins Visuelle: Seine Funnyfiguren mit ihren viel zu kleinen Körpern und den riesigen Ballonköpfen sehen auch als Wehrmachtssoldaten ausnehmend niedlich aus. Ob dies zu einem Darstellungsproblem führt, bei dem reales Grauen verharmlost wird, oder ob es, im Gegenteil, die Sensibilisierung gegenüber antisemitischem Wahn zusätzlich fördert, wenn harmlos dreinschauende Knuddelmännchen ihre Mitmenschen auf offener Straße blutig prügeln, sollte man am besten im Kreise der angepeilten jungen Leserschaft diskutieren. Dann könnte man sie auch darauf hinweisen, dass auf der Impressums- und Danksagungsseite zusätzlich ein Vorwort des ehemaligen Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, sehr geschickt versteckt wurde.
Dass Loic Dauvillier, der in Frankreich hauptsächlich als Autor von Kindercomics arbeitet, auch erwachsene Stoffe hervorragend umzusetzen versteht, beweist eine zweite deutsche Übersetzung. „Das Attentat“ lautet die Comicadaption des Bestsellerromans “Die Attentäterin“ des algerischen Schriftstellers Yasmina Khadra. Dauvillier benötigt lediglich die ersten drei Seiten, um Amin Jaafari, einem palästinensischen, in Tel Aviv lebenden und arbeitenden Chirurgen, jede Sicherheit seines bürgerlichen Daseins zu nehmen. Nach einem Selbstmordattentat in der Innenstadt, dem 19 Menschen zum Opfer fielen, erklärt ihm die Polizei noch in derselben Nacht in äußerst rüder Manier, dass seine Ehefrau den Sprengstoffgürtel gezündet hat. Was wiegt schwerer: der Schock über ihren Tod oder die Gewissheit, jahrelang über ihr terroristisches Doppelleben völlig im Unklaren gewesen zu sein?Die Bombe hallt nach, Amin verfällt physisch und psychisch. Trotz seiner Unschuld von der Polizei, den Nachbarn und Kollegen als Kollaborateur gebrandmarkt, fährt er, am Rande des Zusammenbruchs, nach Bethlehem, um die letzten Tage seiner Frau rekonstruieren, mit denen sprechen zu können, die er für ihre Funktionalisierung verantwortlich macht – ein Imam, der ihr vor ihrer Tat das Paradies versprochen hat, Familienmitglieder, die den Kontakt zu islamistischen Terrororganisationen hergestellt haben.
Im Prinzip erzählt Dauvillier (wie die Romanvorlage Yasmina Khadras) eine Reise ins Herz der Finsternis vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts. „Das Attentat“ ist weder ein agitatorisches Pamphlet noch eine Verständnisschrift für die Initiatoren und Befürworter der Gewalt. Amin gleicht dem hoffnungslosen Noir-Helden, der mit jedem Versuch, Kontrolle über sein Leben, sein Ich und seine Umwelt zurückzuerlangen, nur tiefer in seinem Trauma versinkt, weil es sich kaum vom Trauma der Gesellschaft unterscheidet, in der er sich bewegt. Als Amin zu Beginn die zerfetzte Leiche seiner Frau identifizieren muss, sehen wir nur seine Gedanken auf zwölf schwarzen Panels. Von hier an ist dies die Geschichte eines Hinterbliebenen, der seinen seelischen Tod genauso wenig bemerkt wie wir.
Dieser Text erschien zuerst in: KONKRET 08/2014
Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.