Während Raymond zusammen mit 106 anderen Bewohnern von deutschen Wehrmachtsoldaten aus dem ostfranzösischen Dorf Murat deportiert wird und in dem kommenden Jahr Zwangsarbeit in einer Bremer U-Boot-Bunkerwerft leisten muss, erlebt der Polizeiangestellte Johann Seubert zur selben Zeit, am selben Ort, eine andere Wirklichkeit. Diese beiden Perspektiven auf die deutsche Geschichte hat Comic-Debütant Jens Genehr nun in „Valentin“ zusammengebracht: „Die nun folgende Geschichte ist bitter, ohne Zucker.“
Bremen, 1944. Johann Seubert ist ein provinzieller Tausendsassa mit fliehendem Kinn und NS-typischer Frisur. Als leidenschaftlicher Fotograf hat er sich für die NS-Bewegung spätestens ab 1933 begeistern lassen und Veranstaltungen der NSDAP mit seiner Fotokamera begleitet. Als die Marine bei dem linientreuen Kleinbürger klingelt, um ihn von einem Fotografie-Projekt zu überzeugen, willigt Johann schnell ein. In den kommenden Monaten wird Seubert das Bunkerwerft-Projekt in Bremen-Farge fotografisch und filmend begleiten.
Murat, 1944. Nachdem die französische Resistance in dem von der Wehrmacht besetzten Dorf einen deutschen Offizier niedergeschossen hat, rächen sich die Soldaten, indem sie die Bewohner des Dorfes in das Konzentrationslager Neuengamme und dann weiter in das Arbeitslager Bremen-Farge deportieren. Unter diesen befindet sich auch der 18-jährige Raymond Portefaix, der seine Erlebnisse später in dem Buch „Hortensien in Farge“ niederschreiben wird.Die Wege des Deutschen, der von dem Bauprojekt profitiert, und des Franzosen, der in dem Arbeitslager unbeschreibliches Leid erfahren muss, kreuzen sich nicht. Welten liegen zwischen ihnen, obwohl sie auf derselben Baustelle arbeiten. Genehr schildert im Wechsel die beiden so unterschiedlichen Perspektiven: die bedingungslose und naive Begeisterung über die Ingenieursleistung einerseits, das Leid der Zwangsarbeiter zahlreicher Nationen andererseits. Die über 900 Fotos, die heute von Seubert überliefert sind, zeigen die technische Seite des Bunkers, Raymond Portefaix die menschliche oder vielmehr die unmenschliche. Die Quellenlage, auf die dieser Comic basiert, könnte also kaum unterschiedlicher sein.
Während Raymond als Charakter einigermaßen plastisch wird, bleibt Seubert ein stereotyper Kleinbürger-Nazi, ein gedankenloser Schürzenjäger, dem man kaum überhaupt eine Motivation zuschreiben kann. Vielleicht liegt in dieser Banalität des Bösen das eigentliche Grauen, aber vielleicht haben die Bildquellen auch nicht hergegeben, sich mehr in den Charakter einzufühlen. „Portefaix schreibt einen sehr intimen und persönlichen Erlebnisbericht“, so Genehr im Interview, „in dem er sein Erleben der Geschehnisse eindringlich beschreibt. Von Seubert gibt es nur die Fotos und eine Entnazifizierungsakte. Seine Person liegt mehr im Dunkeln und war für mich auch eine Projektionsfläche für meine Vorstellungen von seiner Arbeit auf der Baustelle, über die ich viele Mutmaßungen anstellen musste.“
Dem Comic ist ein kurzer Prolog vorangestellt, in dem Genehr über die Zubereitung von Espresso, vor allem aber über den Zugang zu Quellen reflektiert. So wie das Wasser für seinen Kaffee aus einer Quelle stammt, die er nicht sieht, ist er für seine Recherchen auf Berichte angewiesen, die nicht zwangsläufig „wahr“ sind, sondern eine Frage der Perspektive: „Diese Fiktion belebt Geschichte, kann sie teil- und streitbar machen.“
Jens Genehr ist Comic-Debütant, und „Valentin“ ist eher zufällig entstanden. Während seines Psychologie-Studiums in Bremen hat er die Bunker-Anlagen kennengelernt und begonnen, dort Führungen für Schulklassen durchzuführen. In diesem Zuge sind Zeichnungen entstanden, in denen er seine Beobachtungen und Recherchen verarbeitete. Dass daraus ein Comic-Projekt wurde, ist dem Zuspruch seiner Kolleg*innen und der Begeisterungsfähigkeit der Verlegerin Ausma Zvidrina zu verdanken. „Valentin“ ist der erste Comic in dem kleinen Programm des Bremer Independent-Verlags Golden Press. Genehr: „Das hat gepasst wie der Arsch auf den Eimer und ist eine spannende und gute Zusammenarbeit, ohne die der Comic niemals so schön geworden wäre. Und das obwohl wir beide eigentlich keine Ahnung davon haben und es unsere erste Comicveröffentlichung ist.“ Seit 2014 studiert Genehr an der Hochschule für Künste Bremen, „Valentin“ ist seine Diplomarbeit.Als amerikanische Soldaten das Lager befreien, scheint das Grauen ein Ende zu finden: „Es ist vorbei! Es ist endlich vorbei!“ – Aber Raymonds Mithäftling sagt hellsichtig: „Du weißt, was man über die Hölle sagt? Sie geht nicht vorbei … sie währt ewig.“ Die Handlung springt in die Nachkriegszeit, und nun erfüllt sich, so bitter wie der Espresso aus dem Prolog, was der Häftling meint: Seubert kann seine propagandistische Tätigkeit nicht zur Last gelegt werden, und der Bunker-Ingenieur Erich Lackner sagt noch 1981 in einem Interview, dass die Arbeitsbedingungen doch für alle Arbeiter, deutsche wie nicht-deutsche, gleich gewesen seien. Der überzeugte Nationalsozialist starb 1992, ohne sich jemals für seine Tätigkeit verantworten zu müssen.
Wer diesen Comic in die Hand nimmt, wird es nicht unbedingt wegen der Zeichnungen tun. Die Bleistiftzeichnungen sind kein Blickfang, die Gesichter austauschbar. Genehr hat im Laufe der sechs Jahre, in denen er an „Valentin“ gearbeitet hat, mit verschiedenen Formen der Darstellungen gerungen und sich letztlich für einen reduzierten Schwarzweiß-Stil entschieden.
Genehr sind aber auch eine ganze Reihe von Seiten gelungen, die wirklich berühren und das Grauen in beeindruckende Bilder kleiden. Dies sind vor allem die „stummen“ Sequenzen, in denen etwa die Häftlinge zwei Leichen transportieren sollen und die leblosen Körper immer weiter nach hinten durchgereicht werden, bis sie schließlich über den Boden geschleift werden. Oder auch die Szene mit den im Wind flatternden Hemden der Lagerinsassen, deren Vielzahl für die Verstorbenen steht, die keine Kleidung mehr benötigen.
Ebenfalls geglückt ist das Erzählen in Parallelhandlungen, die so weit auseinanderdriften, dass es ganz folgerichtig ist, deren Protagonisten sich nicht einmal begegnen zu lassen. Für eine differenzierte Charakterstudie wagt der Comic sich wiederum nicht weit genug in den „boscho narrativo“ hinein – ein wenig mehr Spekulation hätte dem dokumentarischen Anspruch nicht unbedingt geschadet, immerhin haben andere historiografische Comics wie etwa Art Spiegelmans „Maus“ gezeigt, wie man auch ungewisse Behauptungen als Erinnerungsarbeit in Szene setzen kann.
Die erste Auflage des – verlegerischen wie künstlerischen – Debüts ist ausverkauft, eine zweite bereits im Druck.
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.