Superman will eine Familie, kann aber keine haben – nicht mal in seinen Träumen.
Mit der Figur Xorn hat Grant Morrison 2010 dem „X-Men“-Kosmos seinen eigenen Gott der Lügen geschenkt: Der Mutant mit dem Zwergstern im Kopf, anstatt eines Gehirns, ist ein vorgeblicher politischer Gefangener des chinesischen Staates, der nach seiner Retttung durch die Helden zum geschätzten Mitglied im Kollegium der „Xavier School for Gifted Youngsters“ wird. Umso härter trifft es die Gruppe X, als ihr neuer Freund sich als Betrüger entpuppt. Der Mann mit der eisernen Maske ist in Wirklichkeit Erzfeind Magneto.
In dem darauffolgenden Jahrzehnt hat der Charakter eine erstaunliche Evolution durchlaufen, vom Gott der Täuschung zum Apokalyptischen Reiter und Verkünder von letztgültigen Wahrheiten. So zeichnen Jonathan Hickman & R. B. Silva ihren Xorn in „Powers of X“. Eine seiner Wahrheiten: „This is all that matters – that we leave behind something that resonates long after our passing.“
Wirklich nichts fürchten wir Menschen so sehr wie das Vergessen: „For most there is nothing“, weiß Xorn, „just the pointless march toward oblivion. It’s eat, sleep, fight, die, just as it has always been and always shall be, until the sun swallows us all.“ Nichts schmerzt mehr als die Wahrheit, dass die meisten von uns vergessen werden. Wahrscheinlich wollen wir deshalb unbedingt etwas Dauerhaftes hinterlassen. Kunstschaffende, Intellektuelle, Staatenlenker*innen: Sie alle wollen, dass die Nachwelt ihr Opus Magnum erinnert.
Wir anderen kriegen Kinder. In diesen Kindern leben wir weiter.
Die meisten jedenfalls, aber bei weitem nicht alle. Zu den prominentesten Ausnahmen gehört auch der bekannteste Superheld: Superman. Er darf keine Familie gründen. Superman hat nur Freunde – Wonder Woman, Batman und Robin zum Beispiel, die in „For the Man Who has Everything“ (Superman Annual 11) mit dem Stählernen zusammen Geburtstag feiern wollen. So sind gute, aufmerksame Freunde. Allein, die Comicproduzenten Alan Moore und Dave Gibbons stellen unmissverständlich klar: Die Geburtstagsgeschenke für Superman können die Leere nicht füllen, die das Geburtstagskind empfindet. Der Mann von Morgen braucht keinen Tand; er sehnt sich nach Kindern. Das wirft jedoch die Frage auf: Warum lehnt Superman das Geschenk eigentlich ab, welches der galaktische Schurke Mongul ihm macht? Zur Erinnerung: Mongul „schenkt“ Superman die Illusion einer Familienidylle, die zwar nicht echt ist, sich aber definitiv real anfühlt. Haben wir das in Fan-Kreisen berüchtigte Geschenk etwa zu Unrecht als ein vergiftetes Präsent verstanden?Was Mongul Superman eigentlich gibt, ist die „Schwarze Gnade“ („Black Grace“), eine Schlingpflanze aus dem Weltall, die sich von der Lebensenergie ihrer Opfer ernährt. Aber die Schwarze Gnade saugt ihre Opfer nicht einfach aus. Dank telepathischer Fähigkeiten gibt das Weltraumgewächs seinen Wirten etwas zurück, nämlich die Erinnerung an einen langen, lebensechten Traum, den der Symbiont aus tief in der Psyche vergrabenen Sehnsüchten zusammensetzt.
Als Supermans Freunde in die Festung der Einsamkeit kommen, lebt Superman gerade seinen Traum der Schwarzen Gnade – eine gänzlich unauffällige Existenz auf dem Planeten Krypton. In der Einbildungskraft des Protagonisten ist Supermans Heimatplanet niemals explodiert.
Dies ist also Supermans sehnlichster Wunsch: Er will ein kraftloser, ängstlicher Angestellter sein, der bei seinen beiden Kinder – Orna und Van – aufblüht, am übrigen, insbesondere öffentlichen Leben hingegen nicht teilnimmt. Kal-El, wie Superman auf Krypton heißt, fürchtet Gefühle, Auseinandersetzungen und Schicksalsschläge. Er ist das genaue Gegenteil seines Alter Egos auf der Erde. Kal-El ist die Sorte Mensch, die das Leben über sich ergehen lässt. Nur nackte Angst zwingt ihn zum Handeln. Als Mitglieder der Familie El zu Zielen von politisch motivierten Gewalttaten werden, zögert Superman keine Sekunde lang. Er befiehlt seiner Frau vom Fernsprecher aus, mit Orna zusammen die Stadt zu verlassen. Er selbst wolle Van zu den Schwiegereltern, in der Sicherheit von Atomic City, bringen, wo die Familie sich wieder treffen soll.
Doch noch bevor Kal-El und Van Atomic City erreichen, erkennt der Vater, dass sein Traum jeden Augenblick zu Ende gehen wird: „Van, please, […] You’re my son. I was there at your birth and i’ll always love you. Always. But… but Van… I don’t think you’re real.“ Kaum dass Superman die Ahnung ausspricht, zerplatzt der Traum von Krypton. Besser gesagt: Er zerfällt zu Staub, der von kosmischen Winden verweht wird. Vans Schreie hallen noch im Sandsturm nach: „I want to see my mother!“ Aber Superman kann den Sohn nicht trösten, so gerne er auch würde: „Please, just let me hold you once more…“ Ausgerechnet in diesem Augenblick gelingt es Batman endlich, Superman gewaltsam von der Schwarzen Gnade zu trennen. Superman erwacht aus seinem Schlaf und ist für immer von Orna, Van und Krypton getrennt. Die Trauer des Stählernen schlägt in unermessliche Wut um, die einen roten Schleier des Zorns über den ganzen Comic legt.
Warum eigentlich ist Superman so unermesslich wütend? Stimmt es etwa doch nicht, was Lord Alfred Tennyson 1849 geschrieben hat: „’Tis better to have loved and lost / Than never to have loved at all“? Ich glaube, Supermans Schmerz rührt daher, dass er durch die Schwarze Gnade mehr verloren hat, als ihm zuvor geschenkt worden ist; nicht nur das viel zu kurze Familienglück, sondern auch die Erinnerung an seine Heimat. Vor dem schicksalhaften Geburtstag war Krypton für Superman ein Sehnsuchtsort, eine unerreichbare Science-Fiction-Utopie in der entfernten Vergangenheit. In Supermans Erinnerung lebte Krypton im Zustand der absoluten Perfektion weiter, mehr Fantasie als Wirklichkeit und deshalb immun gegen die Ambivalenzen der Wirklichkeit.Doch die Schwarze Gnade hat diese Erinnerung entzaubert, weil der träumende Superman die Konsequenzen unbewusst weiterdenkt, die das Überleben Kryptons nach sich zöge. An allererster Stelle, dass Supermans Vater Jor-El als Apokalyptiker und falscher Prophet an den politischen Rand der Gesellschaft gedrängt worden wäre. Die Bitterkeit darüber zerfräße den alten Mann: „I think you whish Krypton had exploded after all“, wirft Superman seinem Vater vor.
Es ist beinahe gespenstisch, wie aktuell „For the Man Who Has Everything“ nach mehr als 30 Jahren bleibt. Am Beispiel Jor-Els haben Moore und Gibbons den Sündenfall von Intellektuellen, Kulturschaffenden, Politiker*innen und Entscheider*innen der Marke Tellkamp, Handke, Gauland vorgezeichnet. Jor-El degeneriert zum Stichwortgeber einer rechts-nationalistischen Allianz, die sich nach einem mythischen, totalitären „Alt-Krypton“ zurücksehnen: „I once knew a Krypton that was more noble and unspoiled“. Als Paramilitärs in außerirdischen Ku-Klux-Klan-Uniformen terrorisieren diese Sittenwächter die Hauptstadt ihres Planeten. Sie spalten die Gesellschaft und vergiften das öffentliche ebenso wie das private Leben.Sie vergiften die Utopie.
Alan Moore und Dave Gibbons haben angedeutet, was wir heute aus wissenschaftlichen Studien wissen: Das negative Affekte stärker erlebt werden als positive, schlechte Erlebnisse leichter erinnert als gute, Traumata sich noch in den Seelen unserer Kinder und Kindeskinder manifestieren. Der Traum von Krypton, wie Superman ihn in der Umarmung der Schwarzen Gnade gesehen hat, wird sich nicht so leicht wieder abschütteln lassen. Die Unschuld, derer Jor-El und seine Neonazi-Freunde Krypton berauben, lässt sich nicht wieder herstellen. Das Silver Age Utopia, „more noble and unspoiled“, ist unwiederbringlich verloren. „You can’t go home again“, sagt man so auf Englisch. Superman sagt: „Perhaps it’s for the best.“
Jakob Kibalas vorläufiges Opus Magnum heißt „Wissen und Erschließen“ über die Batman-Comics von Grant Morrison und „The League of Extraordinary Gentlemen“ (Ch. A. Bachmann Verlag). Auf Instagram bloggt er über die „X-Men“-Comics der 1990er Jahre. Ab 2020 lebt er zu dritt mit Freundin und Kind