Die spanische Balearen-Insel Mallorca ist heute ein „Ferienparadies“, vor allem für deutsche Pauschalurlauber und echte oder vom Reality TV produzierte „Aussteiger“. Viel ist zu finden in den Reiseführern und Werbeprospekten über die Schönheit der Landschaft, die Gastfreundschaft der Bewohner, die Zeugnisse einer großen Geschichte in Mittelalter und Neuzeit. Fast nichts dagegen ist zu erfahren über die Geschehnisse im Spanischen Bürgerkrieg und unter der faschistischen Herrschaft und noch weniger über das Schicksal der jüdischen Menschen auf Mallorca. Davon, wie sich die Insel mit einem Schlag von einem natürlichen und sozialen Zustand bescheidenen Glücks in ein Modell des faschistischen Terrors verwandelte.
Ein Roman in Zeichnungen
Es gibt Stoffe, die sich durch ein Zusammentreffen von subjektiven Erinnerungen und historischer Faktizität geradezu anbieten, in der freien Form der Graphic Novel bearbeitet zu werden. Ein Mode- und Werbewort, gewiss. Doch die Graphic Novel ist mehr als eine Gentrifizierung des Comicstrips, der hier die Form eines Romans in Zeichnungen annimmt oder wie bei einem ihrer Pioniere, Will Eisner, die von lose verbundenen Kurzgeschichten. Die Graphic Novel nämlich kann die für einen Stoff adäquate Form suchen, und sie ist offen genug, um mehrere Gestaltungsmittel nebeneinanderzusetzen. Im Gegensatz zum Comicstrip, der es gerade darauf angelegt hat, Konsistenz und Repetition zu erzeugen, ist die Graphic Novel zu einem reflektierten Erzählen geeignet. Ein bewährtes Mittel ist dabei das Erzählen in Rückblenden, ein Bildhaftmachen dessen, was Vergangenheit und Gegenwart ist.
Seit Art Spiegelmans „Maus“ hat sich die Gattung nicht zuletzt als ideales Medium entwickelt, um Erinnerung an Faschismus, Krieg und Holocaust in Biografie und Familienerzählung zu spiegeln. Auch „Tante Wussi“ ist so eine Geschichte, in der ein Familienroman und eine historische Tragödie zusammenkommen. Emotion und Information. „Tante Wussi“ wurde geschrieben von Katrin Bacher nach den Erzählungen und den Fotografien ihrer Großtante Wussi; die Autorin ist eine Wanderin zwischen der spanischen und der deutschen Kultur, man erkennt das nicht nur an gewissen Erzählrhythmen, sondern auch an kleinen Einschüben subjektiver Heimatgefühle. Gezeichnet und gemalt in pastelligen und aquarelligen Farben mit einer grandiosen Empfindungspalette hat das Tyto Alba, ein Künstler, der sich merkwürdigerweise nach einer Schleiereule nennt und es liebt, Städte und Landschaften lebendig werden zu lassen, Arthur Conan Doyles nebliges London ebenso wie das Paris von Pablo Picasso (La vida). Die beiden bilden gewiss so etwas wie ein Dream-Team der zeitgenössischen Graphic Novel.Was sie verbindet, ist eine ungeheure Zärtlichkeit gegenüber ihren Sujets, eine tiefe Bereitschaft zur Trauer und eine große Kenntnis von Literatur und Kunst. So sehen wir Hommages an Sempé, an Otto Dix, an Tomi Ungerer, an Filme und Illustrationen der 30er Jahre, aber auch die Kunst, das alles mit den Augen eines kleinen Mädchens zu sehen und in einer Sprache zu hören, die in fast jedem Augenblick wirklich lebt (nur ganz selten muss das Empfinden wirklicher Dialoge der didaktischen Eile weichen, mit der man auf die brennenden Themen der Erzählung zurückkommen muss).
Das vergessene Kapitel aus der Geschichte des Holocaust wird auf drei Ebenen ausgebreitet. Da ist die Gegenwart, in der Tante Wussi ihrer Großnichte die Geschichte ihres Lebens erzählt, mal im sonnendurchfluteten kleinen Garten mit den Palmen und Bananenpflanzen, mal auf den Wegen durch das Städtchen Bunyola im Nordwesten der Insel oder im Haus mit den vielen Erinnerungsstücken. In dieser Gegenwart gibt es immer noch köstliche Empanadas und Viertel, die aussehen, als wäre nie etwas Schrecklicheres als eine Kaffeeknappheit geschehen. Aber wir sehen auch die ziemlich besinnungslosen Touristen, die, sarkastisch genug, vom Hotelportier als „distinguierte Gäste“ bezeichnet werden (und aussehen wie von George Grosz porträtiert). Tante Wussis Geschichte, die zweite Ebene der Erzählung, ist ein Mosaikstein für das Bild des Schicksals der jüdischen Emigranten und der katholischen Eheleute und Familienmitglieder auf der Insel und nach der Flucht von ihr. Das änderte sich sehr plötzlich und fundamental mit dem Beginn des Spanischen Bürgerkriegs.
Ein politisches Lehrstück
Die Insel lebte dabei so für sich selbst, dass viele Bewohner gar nicht begreifen, was da geschieht. Dabei hat die lokale Elite von Wirtschaft und Politik das Ihre getan, um dem Faschismus den Weg zu bereiten, jedenfalls gibt es keinen nennenswerten Widerstand gegen eine Besetzung durch die Franquisten. Im August 1936 scheiterte ein Versuch der republikanischen Kämpfer, die Insel zurückzuerobern, und weil die Insel eine strategische Bedeutung hatte, griffen sowohl Franco als auch Mussolini nach ihr. Unterstützung erhielten sie von den Unternehmern und Bankiers, vorrangig durch Juan March, der durch den Waffenhandel reich und mächtig geworden war und aus dem römischen Exil den faschistischen Putsch maßgeblich mitfinanziert hatte. Mit seiner tatkräftigen Unterstützung errichtete der italienische Faschist Aldo Rossi auf dieser Insel ein sadistisches Terrorregime, das die Schrecken des Faschismus auf engem Raum in solche Zonen des Grauens führte, dass es schließlich selbst den Finanziers und Bürokraten des Faschismus zu viel wurde.
Ein politisches Lehrstück, das sich freilich für die deutsch-jüdischen Menschen zunächst als undurchschaubares Wirrwarr zeigt. Einige beschließen, auf der Insel zu bleiben, andere kehren in ein Deutschland zurück, das gerade der Olympischen Spiele wegen die Brutalität des NS-Regimes zu maskieren versucht. Die Familie von Wussi kehrt ausgerechnet nach Deutschland zurück, weil es auf der Insel keine Arbeit mehr gibt und die Verfolgung zunimmt. Wussi spürt, als sie in diese andere Welt kommt, neben der ungewohnten Kälte und Lichtlosigkeit das Unheil, das in der Luft liegt. Und doch gibt es, auch, während die Familie zerrissen und zerstreut wird, Augenblicke des Glücks, eine Freundschaft, das Leben in einem Pfarrhaus auf dem Land, eine Frühlingswiese in der Sonne. Viele Familienmitglieder sterben, andere treffen nach langen Jahren erst wieder zusammen. Das Leben auf Mallorca wird beinahe wieder normal. Und Juan March ist einer der mächtigsten und reichsten Männer Spaniens, bis ihn ein Autounfall dahinrafft.Auf einer dritten Ebene steuert die Autorin Informationen zur Geschichte der Insel und vor allem der chuetas, der auf ihr lebenden Juden, bei, eine Geschichte der Pogrome, der Zwangstaufen, aber auch der „Pausen“ von Toleranz und Miteinander. Eine der ersten Maßnahmen nach der faschistischen Besetzung der Insel war es, von allen Frauen, den ursprünglichen Bewohnerinnen wie den zu Beginn der 30er Jahre nach Mallorca gekommenen Familien aus Deutschland, zu denen Tante Wussi gehört, einen Nachweis der „Reinheit des Blutes“ zu verlangen. Aber diesmal konnte die katholische Kirche wenigstens durch eine Verzögerungstaktik erreichen, dass eine Registrierung aller „Mischlinge“ nicht zustande kam.
Ein Ort für die Fotografie
Spurensuche und Geschichtsunterricht. „Tante Wussi“ verbindet das auf eine wundervoll fließende Weise. Das Großartige ist, dass sich in den aquarellhaften Bildern die Beziehung zwischen der sonnigen Heiterkeit der Insel und der Finsternis der Geschehnisse ebenso verhält wie in der Wirklichkeit: mal als kaum merklicher Übergang, mal als grässlicher Bruch.
Die scheinbar einfache Charakterisierung der Figuren – viel wird über Licht, Schatten und Raum vermittelt – aus Tagebuchskizzen, Dokumentsammlung und grandioser Stimmungsmalerei nimmt der Geschichte alles Sperrige und Zu-Didaktische. Es trifft sich, dass die Familie von Tante Wussi auf der Insel ein Geschäft mit fotografischen Utensilien führte. Die Fotografie zieht sich denn auch als ein weiteres Leitmotiv durch die Graphic Novel. Es geht darum, wie Geschichte festgehalten wird und wie gegen das Vergessen gearbeitet werden kann.
Ein Happy End gibt es übrigens auch. Jedenfalls für Tante Wussi, die eine Freundin aus der Vergangenheit wieder in die Arme schließen kann. Aber für die Erzählerin? Nachdem sie in der Douglasstraße die dort angebrachten Stolpersteine fotografiert haben, geraten sie und ihr Freund in eine Pegida-Demonstration der „deutschen Patrioten“. Oh ja, sie sind wieder da. Oder waren sie nie weg? Und machen Urlaub auf Mallorca, als distinguierte Gäste im Tomi-Ungerer-Look.
Dieser Text erschien zuerst in: Der Freitag
Georg Seeßlen, geboren 1948, Publizist. Texte über Film, Kultur und Politik für Die Zeit, Der Freitag, Der Spiegel, taz, konkret, Jungle World, epd Film u.v.a. Zahlreiche Bücher zum Film und zur populären Kultur, u. a.: Martin Scorsese; Quentin Tarantino gegen die Nazis. Alles über INGLOURIOUS BASTERDS; Blödmaschinen. Die Fabrikation der Stupidität (zusammen mit Markus Metz); Tintin, und wie er die Welt sah. Fast alles über Tim, Struppi, Mühlenhof & den Rest des Universums; Sex-Fantasien in der Hightech-Welt (3 Bände) und Das zweite Leben des ›Dritten Reichs‹. (Post)nazismus und populäre Kultur (3 Bände). Kürzlich erschien in der Edition Tiamat Is this the end? Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung.