Da sitzt einer, betrachtet sein Spiegelbild im Toaster und zeichnet dazu ein Selbstportrait: Der Toaster ist gewölbt, das Spiegelbild so verzerrt, dass es den Körper auseinanderzieht.
Brian Millner: „Aus dem Wohnzimmer höre ich meine Freunde quatschen. Es wird getrunken und gekifft.“
Die Zeichnung zeigt dagegen einen ausgemergelten Körper, aus dessen Hemdkragen etwas wächst, das an eine Qualle erinnert – oder auch an ein Gehirn, das ohne Verbindung zur Realität zu existieren scheint. Kein Auge oder Ohr verbindet die Wucherung mit der Außenwelt.
„Es stört mich nicht, allein in der Küche zu sitzen. Im Gegenteil, ich bin gern allein.“
Auf der Suche nach der Identität
Brian Millner heißt der Mann, der da zwischen Selbstbild und Fremdbild seine Identität sucht. Ein Zeichner und Filmemacher, der mit einem Freund schon in der Schule gruselige Super-8-Filme gedreht hat und in der zwischenmenschlichen Kommunikation ungefähr so geschmeidig ist wie ein verstörter Teenager. Er ist das Alter Ego von Charles Burns. Als auf einer Party Super-8-Gruselschocker gezeigt werden, nähert sich Brian einer jungen Frau namens Laurie an.
Laurie: „Plötzlich spüre ich eine Hand auf meinem Rücken. Im Dunkeln sehe ich sein Gesicht kaum, spüre aber, wie seine Hand auf meinem Rücken zittert.Laurie soll die Hauptrolle beim Dreh des nächsten Independent-Films übernehmen. Plötzlich geht das Licht an.
„Mit einem Ruck zieht Brian seine Hand weg und löst sich von mir. Sein Blick ist kalt und distanziert.“
Mit feinen Beobachtungen und lakonischen Bemerkungen seziert Burns die vorsichtigen Annäherungen zwischen dem kreativen Sonderling Millner und einer Frau, die sich eher von den Bedürfnissen der anderen treiben lässt, als ihren eigenen zu folgen. Der vorläufige Höhepunkt dieser Beziehung – am Ende des ersten Bandes – sieht so aus, dass Laurie sich beinahe wortlos in einem Café Brians Zeichnungen ansieht.
Surrealistische Bilder
Wirklich großartig ist der Comic wegen der surrealistischen Bilder, für die Burns berühmt ist. Da gibt es klare schwarze Konturen und Schraffuren, die immer wieder durch den Einsatz von kräftigen Farben in Bewegung geraten – und Unbehagen verbreiten, weil die klare Ordnung der Striche ins Wanken gerät. Wie meisterhaft das ist, wird deutlich, wenn selbst abgegriffene Bilder berühren. Da sind verschlungene Wege zu sehen, auf denen wuchtige Steine im Weg liegen. Und dann greift Brian im Traum in eine riesige Bohnenschote, als würde er eine Vagina öffnen und legt damit eine nackte Frau frei.
„Na, wird das eine Szene für euren Film? Das ist doch genau wie in ‚Invasion of the Body Snatchers‘, als sie die Hülle mit den Außerirdischen entdecken.“
Der Horror vor einer feindlichen Außenwelt
Wie entsteht Kreativität? Und wie wird aus den Erfahrungen eines ganz individuellen Lebens Kunst, die viele berührt? Charles Burns erforscht diese Fragen in dem Comic „Daidalos“ mithilfe seiner eigenen Erfahrungen. Dazu lässt er immer wieder die Horror-Bilder von amerikanischen B-Movies einfließen – und zeigt die Party-Kultur und das Leben der 70er Jahre in den USA. Der Horror vor einer feindlichen Außenwelt, den die B-Movies verbreiten, korrespondiert mit der inneren Unsicherheit der jungen Party-Gänger. Aber auch mit den Ängsten vor der Brutalität einer auseinanderbrechenden Gesellschaft.
„Hey Süße, wie wär’s mit ’ner Spende?“
„Tut mir leid, ich hab nichts.“
„Ach, es tut Dir leid. Fick Dich!“
Damit ist der Comic „Daidalos“ ein Muss für alle Fans der Popkultur des 20. Jahrhunderts – und natürlich der Fans von Charles Burns.
Dieser Text erschien zuerst am 04.02.2020 in: Deutschlandfunk
Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Daidalos“.
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.