Adoleszenz und Vulva-Wunden – „Daidalos“

Charles Burns erzählt und zeichnet in „Daidalos 1“ die Geschichte von Laurie und Brian – zweier Jugendlicher, die einander auf einer Party Ende der 1970er Jahre kennen- und im Laufe des ersten Bandes noch nicht lieben lernen. Während die Partygesellschaft altersgerecht flirtet oder Alkohol trinkt (bzw. beides), sitzt Brian abseits in der Küche und zeichnet ein Selbstporträt, das sich verzerrt auf der Oberfläche des Chrom-Toasters vor ihm spiegelt. Laurie wird auf ihn aufmerksam, freundet sich mit ihm an und begleitet ihn, ganz dem Protokoll adoleszenter Annäherungen folgend, ins Kino. Mit „Invasion of the Body Snatchers“ (in Deutschland unter dem charmanten Titel „Die Körperfresser kommen“) haben sie einen Film ausgewählt, der heute als Klassiker des Horrorgenres gilt. Am Ende des Filmes wie auch des ersten Bandes sind Laurie und Brian nicht ganz schlüssig, wie sie zueinander stehen. Wir sind es auch nicht. Unterbrochen wird die Handlung von phantastischen Traum- oder Fantasiesequenzen, die von einem seltsamen fliegenden Tentakelhirn bewohnt werden, d. h. wir Leser sind also etwa so verunsichert wie pubertierende Kinogänger.

Charles Burns (Autor und Zeichner): „Deidalos Band 1“.
Aus dem amerikanischen Englisch von Heinrich Anders. Reprodukt, Berlin 2020. 64 Seiten. 20 Euro

Wem manches aus dieser Zusammenfassung bekannt vorkommt und wer sich an „Black Hole“, jenen düsteren Comic-Klassiker, dem Burns seine Popularität verdankt, erinnert glaubt, liegt nicht ganz falsch. Flüchten die Jugendlichen sich in „Black Hole“ (1995–2004) in ihre Drogenphantasien, die sie als „Planet Xeno“ bezeichnen, ist diese Parallelwelt hier noch unbestimmt, aber nicht weniger befremdlich. Der unverkennbare Schwarz-Weiß-Stil von Burns hat nun an Farbe gewonnen, bleibt sich aber in seinen klaren Konturen, starken Kontrasten und markanten Schraffuren treu.

Das Thema (Adoleszenz und Sexualität) und die Symbole (die Vulva-Wunden) entsprechen dem Repertoire aus „Black Hole“, und Burns macht auch gar keinen Hehl daraus: „Ich bin ein Gefangener meiner Obsessionen. Das Bild vom Autor, der immer wieder dieselbe Geschichte erzählt – das trifft wohl auf mich zu. Ich habe mich angestrengt, meinen Lieblingsthemen zu entkommen, aber ich muss sagen, sie holen mich immer wieder ein“, erläutert der Autor in einem Interview für arte.tv.

Mit „Invasion of the Bodysnatchers“ haben Brian und Laurie sich einen Film ausgesucht, der die Differenz von trügerischer Oberfläche und versteckter Bedeutung thematisiert. Der Film lässt sich als Allegorie auf den Kalten Krieg sehen, denn die mit den Alien-Sporen Infizierten leben wie gefährliche „Schläfer“ unerkannt inmitten der Bevölkerung. Wie eine verborgene Ideologie tragen sie die Keime des Unheils in sich und verbreiten es lautlos im Lande, bis die „Guten“ plötzlich in der Unterzahl sind. Diese Grundidee hatte Burns in „Black Hole“ direkt übernommen, wo Jugend und erwachende Sexualität mit der Verbreitung einer Krankheit einhergehen. Mal sehen, was er in „Daidalos“ daraus machen wird.

Dieser Comic ist als Auftakt einer mehrteiligen Albenserie geplant, die im Oktober 2019 zuerst im französischen Verlag Cornelius Editions veröffentlicht wurde. Eine amerikanische Ausgabe soll erst im Rahmen einer Gesamtausgabe folgen, sobald die Serie mit ihren fünf oder sechs Bänden – Burns wolle sich noch nicht festlegen – abgeschlossen ist.

Vielleicht klärt sich dann auch die Titelwahl: Daidalos entstammt der griechischen Mythologie, überliefert u. a. bei Homer und Ovid. Am bekanntesten ist die Geschichte aus Ovids „Metamorphosen“ um Daidalos und seinen Sohn Ikarus, der sich entgegen der väterlichen Warnung mit seinen wächsernen Flügeln der Sonne zu sehr näherte und daraufhin abstürzte. Auf den ersten Blick aber fokussiert Burns hier auf den Künstler und Erfinder Daidalos, denn Brian wird immer wieder zeichnend gezeigt, und zusammen mit seinem Freund Jimmy hat er auch einen Film gedreht. Die folgenden Bände werden es zeigen.

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Daidalos“.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Daidalos Band 1“ (Reprodukt)