Eine sehr diverse Männergesellschaft – „Grönland Odyssee“

„Grönland Odyssee“ zeigt die Welt der Pelztierjäger, die bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts von Dänemark nach Grönland geschickt wurden. Das ist eine ziemlich raue Welt von ganz unterschiedlichen Typen, die da aufeinanderprallen. Der junge, feinfühlige Anton zum Beispiel, der mit dem alten Haudegen Valfred in einer Hütte lebt.

Tanquerelle macht die Unterschiede zwischen den Menschen auch mit den Zeichnungen ganz klar deutlich: Der junge Anton ist ein stattlicher Mann mit Rauschebart – und wenn der mit Valfred beim Kartenspiel sitzt, dann sieht der melancholisch aus mit seinen hängenden Schultern und dem in sich gekehrten Blick – und zugleich wirkt er in seinem ordentlichen Hemd ganz adrett.

Hervé Tanquerelle (Autor und Zeichner): „Grönland Odyssee“.
Aus dem Französischen von Lilian Pithan. Avant-Verlag, Berlin 2020. 376 Seiten. 39 Euro

Das Schnarchen dröhnt durch die Hütte

Ganz im Gegensatz dazu Valfred, der sich da in seinem ausgebeulten Unterhemd am Tisch räkelt, sich mit ausladender Geste am Kopf kratzt, die Füße in löchrigen Socken auf dem Tisch und ein verschmitztes Lächeln an den Tag legt, das seine wenigen ruinösen Zahnstummel freilegt. Und wenn sich die beiden schlafen legen, dann dröhnt Valfreds Schnarchen in diesem Comic buchstäblich durch die ganze Hütte und Anton kann da nicht raus, weil die Hütte die einzige Behausung in einem kilometerweiten Eisfeld ist. Da kann man wirklich mitleiden.

Zugleich werden in den langen Polarnächten ungeheuer spannende Geschichten erzählt: Von einem Jäger, der wissen will, wie die Robben unterm Eis atmen und deshalb selbst im eisigen Wasser untertaucht. Oder von Eisbären, die plötzlich auf einen zurasen und die mit einem geschickten Sprung dermaßen ausgetrickst werden, dass sie von der Eisscholle plumpsen, dann selbst zur Beute werden. Mitunter widersprechen sich die Geschichten von einer Sprechblase zur nächsten. Und eigentlich ist es auch ziemlich egal, ob das alles so stimmt. Es sind einfach herrlich spannende Geschichten.

Derart handfest humorvoll geht es über die ganze Länge des mehr als 360 Seiten starken Comics „Grönland Odyssee“ zu. Und dabei gewinnt die Erzählung ungeheuer an Tiefe, denn die Geschichten sind zwar in sich abgeschlossen und stellen immer wieder andere Jäger und ihre Geschichten vor, aber zugleich sind diese Geschichten auch miteinander verwoben, so dass nach und nach deutlich wird, wie die Männer wurden, was sie sind. Und man lernt die Beziehungen zwischen den Jägern kennen – und was Beziehung überhaupt in so einer Welt bedeutet, in der die Hütten mitunter mehrere Tagesreisen voneinander entfernt liegen.

Seite aus „Grönland Odyssee“ (Avant-Verlag)

Zum Beispiel, dass man einander wirklich zuhört, wenn man sich schon auf die lange Reise zueinander gemacht hat. Das wird immer wieder eingefordert, weil der zwischenmenschliche Austausch so rar ist, dass er ungeheuer wertvoll wird. Und diese Männergesellschaft ist ungeheuer divers: Da treffen Reiche und Arme aufeinander, kultivierte und völlig ungebildete Menschen, Regeltreue und Hasardeure – alles Typen, die die Nase voll haben von der Zivilisation und jetzt ihr Glück in Grönland suchen. Und die einander verstehen, weil sie sich aufeinander einlassen. Das ist berührend und führt immer wieder zu sehr komischen Momenten.

Nach Vorlage des Dänen Jörn Riel

Die Vorlage zum Comic hat Jörn Riel geschrieben. Das ist ein Reiseschriftsteller, der in Dänemark sehr berühmt ist. Der hat Anfang der 1950er Jahre an einer Expedition in Nordostgrönland teilgenommen und dort auch mal einen Winter mit den Inuit, den Ureinwohnern überwintert. In „Grönland Odyssee“ kommen keine einzigen Inuit vor, Jörn Riel hat deren Leben in anderen Büchern beschrieben.

Hier hat er sich ganz auf die abgeschiedene und auch in sich geschlossene Welt der Jäger konzentriert. Zeigt deren Eigensinn, die Lust am Fabulieren und das harte Leben in der Eiswüste. Und genau diesen Kontrast arbeitet Tanquerelle in seinem Comic wunderbar heraus: Die Zeichnungen vom Leben miteinander sind deftig karikierend – da taucht auch schon mal ein Haufen Scheiße in den Sprechblasen auf, in denen geflucht wird, oder die Schädel von denen, denen gerade der Tod gewünscht wird. Die Zeichnungen von der Eislandschaft sind dagegen oft aquarelliert, das gibt der Landschaft eine ungeheure Weite, lässt sie freundlich erscheinen und die Männer darin wirken plötzlich mild.

Jörn Riel hat mit seinen Erzählungen ethnologische Aufzeichnungen einer längst untergegangen Welt geschaffen. Diese Welt zeichnet Hervé Tanquerelle so pointiert, dass sie absolut zeitgemäß wirkt – und ein bisschen zum Sehnsuchtsort in der Corona-Pandemie wird, allein deshalb, weil die Anreise mit dem Schiff damals mehrere Monate dauerte.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 12.08.2020 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Grönland Odyssee“ (Avant-Verlag)