Am Juni 2002 ereignete sich in der Nähe von Tel Aviv ein Anschlag auf einen Linienbus, eines von 138 palästinensischen Selbstmordattentaten der Al-Aqsa-Intifada. 17 Menschen starben, eines der Opfer konnte nicht identifiziert werden und wurde schließlich anonym beerdigt. Man vermutete, es handle sich um einen illegalen Arbeiter. Der israelische Regisseur David Ofek nahm in seinem Dokumentarfilm „Haharug HA-17“ („Nr. 17“) diesen Fall zum Ausgangspunkt, um den alltäglichen Terror und seine Folgen für alle Betroffenen zu dokumentieren. Ofeks Film über die Suche nach der Identität des Opfers hat Rutu Modan zu ihrer ersten längeren Comicerzählung inspiriert, die unter dem Titel „Blutspuren“ in der Edition Moderne erschienen ist.
Die 1966 in Tel Aviv geborene Modan ist als Mitglied des Künstlerkollektivs und Verlags Actus Tragicus eine Protagonistin der unabhängigen israelischen Comicszene. In der Anthologie „Cargo. Comicreportagen Israel – Deutschland“ konnte das deutsche Publikum erstmals Arbeiten aus dem Umfeld von Actus Tragicus kennenlernen. Modans Beitrag zu „Cargo“ bestand aus Eindrücken eines Aufenthalts in Berlin, Momentaufnahmen, die, scheinbar zusammenhanglos und an Kinderbuchillustrationen erinnernd, „das Bild der toughen, kreativen Hauptstadt in die Betulichkeit einer Erich-Kästner-Welt brechen“, wie Jan-Frederik Bandel in einer Rezension schreibt.
In „Blutspuren“ wählt Modan den umgekehrten Weg. Anhand einer scheinbar alltäglichen Liebesgeschichte zeichnet sie ein Bild der israelischen Gegenwart, das vor allem eines deutlich macht: Selbst eine Liebesgeschichte ist eine Geschichte über die permanente Bedrohung. „Weißt du, Gabriel hat mich nach jedem Anschlag angerufen, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist, dass mir nichts passiert ist. Aber diesmal hat er nicht angerufen“, sagt Numi zu Kobi. Der Taxifahrer Kobi ist Gabriels erwachsener Sohn, die Soldatin Numi Gabriels Geliebte.Numi glaubt, Gabriel sei bei einem Anschlag auf den Busbahnhof in Hadera getötet worden, denn seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört, und eines der Opfer konnte nicht identifiziert werden. Ihr Verdacht basiert auf einem Schal, den sie ihm gestrickt hat und den sie in einem Fernsehbericht über den Anschlag vor dem zerstörten Busbahnhof hat liegen sehen. Mühsam überredet sie Kobi zu einem DNA-Test, um Klarheit darüber zu bekommen, ob das unbekannte Opfer Gabriel ist, doch dieses wurde mittlerweile beerdigt. Und so begibt sich Kobi, der nach dem Tod seiner Mutter seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater hatte, mit Numi nach Hadera, auf der Suche nach Anhaltspunkten für das Schicksal Gabriels.
„Ich habe in ‚Blutspuren‘ versucht, nicht nur den dramatischen, sondern auch den alltäglichen Aspekt und die Nüchternheit des Todes zu beschreiben“, erklärt Modan. Diese Nüchternheit des Todes durchzieht den ganzen Comic, jedes Panel ist davon betroffen, selbst jene, in denen sich Numi und Kobi einander anzunähern beginnen: Erst der vermeintliche Tod Gabriels hat die Tochter eines Millionärs, dem Kobis Lieblingsfußballmannschaft Ha’Poel gehört, und den Taxifahrer zusammengeführt.
Modan gelingt es, mit der Suche ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft zu zeichnen; Numi und Kobi begegnen illegalen Putzfrauen, Gerichtsmedizinern, die ihren Alltag mit der Identifikation von Anschlagsopfern verbringen, Eltern gefallener Soldaten, Überlebenden des Anschlags und Angehörigen der Opfer. In den vielen unterschiedlichen Stimmen, die zu Wort kommen, ähnelt der Comic ein wenig Claude Lanzmanns Film „Warum Israel“ von 1973, oder es ist vielmehr der Versuch, Lanzmanns Frage, ob es so etwas wie Normalität in einem Land wie Israel geben kann, auf das neue Jahrtausend zu übertragen und die gegenwärtigen Probleme in den Mittelpunkt zu stellen. War bei Lanzmann die Allgegenwart der Shoah das zentrale Thema, so ist für die Generation israelischer Juden, die um die Jahrtausendwende erwachsen wurden, die Allgegenwart des Terrors hinzugekommen.
Kobis und Numis Suche nach Gabriel spiegelt die Suche nach Antworten auf die Frage, wie ein normales Leben trotz all dieser äußeren Umstände möglich sein kann. Die einfach gehaltenen Zeichnungen Modans stehen dabei in Kontrast zur Komplexität des Erzählten, das in allen Dimensionen kaum zu erfassen ist. Und wiederum ähnlich wie bei Lanzmann fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Die illegale Putzfrau verlässt nach dem Anschlag aus Angst um ihr Kind das Land, die Pathologen haben einen ätzenden Sarkasmus entwickelt, um ihre Arbeit bewältigen zu können, die Überlebenden und Angehörigen der Opfer tragen Angst und Trauer in sich und versuchen trotzdem ihr bisheriges Leben weiterzuführen. In einem Café, das noch Spuren der Explosion aufweist, fährt die Besitzerin, die bei dem Anschlag ihren Mann verloren hat, einen Gast an: „Es gibt keinen Jossi mehr. Jossi ist tot.“ Numi und Kobi stürzen sich in eine Liebesbeziehung, um mit dem Verlust umzugehen.Das Ende bleibt offen – und ebenso die meisten Fragen, die der Comic aufwirft. Ob Gabriel nun das Opfer ist oder nicht, rückt immer mehr in den Hintergrund; er hätte es sein können, ebenso wie Numi oder Kobi, der Pathologe oder die Putzfrau. „Blutspuren“ ist ein Comic für die Toten, die Ermordeten, die als Abwesende in jedem Panel präsent sind. Die Spuren Gabriels, auf die Numi und Kobi stoßen, laufen ins Leere und lassen sich nicht zu einer sinnvollen Geschichte zusammenfügen. Diese Leerstellen aber ermöglichen es ihnen, der Ermordeten, für die Gabriel stellvertretend steht, zu gedenken und an sie zu erinnern.
Sie habe ihre persönliche Sicht auf die israelische Gesellschaft abbilden wollen, sagt Modan. Dazu gehört trotz aller Trauer und Probleme, die der Comic vermittelt, und trotz der Gefahr, wie ein romantisiertes Klischee zu klingen, auch Lebensfreude und Humor (wenngleich oft hinter Sarkasmus versteckt). Modan gelingt es, diese Klischees immer wieder an die politische Realität zu koppeln. Ein solches Bild Israels wird in Deutschland selten vermittelt, in Form eines Comics schon gar nicht. Lediglich Joe Saccos durch und durch problematischer Band „Palästina“, der sich als objektive Comicreportage versteht, konnte hierzulande ein Publikum finden. Als Gegengewicht zu Sacco ist die Veröffentlichung von „Blutspuren“ umso wichtiger – obwohl nicht viel Hoffnung besteht, dass das deutsche Comicpublikum sich auf diese Sicht einzulassen bereit ist.
Dieser Text erschien zuerst in: Konkret 12/08
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.