Futsies, Furcht, Macht und Gewalt. Judge Dredd, übernehmen Sie!

© 2000AD Comics

Wir schreiben das Jahr 2020. In Minneapolis, Minnesota, toben seit dem Tod George Floyds Massenunruhen, die bald über 2000 Städte in den ganzen Vereinigten Staaten und darüber hinaus erfassen. Millionen von Menschen gehen unter dem Motto „Black Lives Matter“ auf die Straße, um für die Rechte von People of Color (POC) und gegen Polizeiwillkür und -gewalt zu demonstrieren. Sie tragen Schilder mit den Namen von Polizeikräften getöteter Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner, damit ihre Namen nicht vergessen werden: Breonna Taylor, Stephon Clark, Atatiana Jefferson, Botham Jean, Michelle Cusseaux, Philando Castille, Janisha Fonville, Rayshard Brooks… Auf den Straßen brennen Barrikaden, Geschäfte werden geplündert. In hunderten US-amerikanischen Städten werden Ausgangssperren verhängt und zehntausende Milizionäre der Nationalgarde entsandt, um die Proteste einzudämmen. 14000 Menschen werden festgenommen, 19 sterben. In über 50 Fällen rasen PKW in Protestantengruppen. Der Präsident lässt mit Tränengas eine Gruppe Protestierender in Washington, D.C., vertreiben, um vor einer Kirche eine Bibel hochzuhalten. In Portland, Oregon, werden Bürgerinnen und Bürger von nicht identifizierten Polizeikräften in unmarkierten Fahrzeugen zum Verhör abtransportiert.

Jump Cut ins Jahr 2099. Innerhalb der Mauern der gewaltigen Mega-City One, die den Großteil der Atlantikküste der ehemaligen Vereinigten Staaten von Amerika umfasst, herrscht Kriminalität ungeahnten Ausmaßes. Hier patrouilliert Joseph Dredd: Polizist, Richter und Henker in Personalunion. Außerhalb der Mauern der drei verstreuten Mega-Cities, die nach dem Zusammenbruch der Vereinigten Staaten übriggeblieben sind, liegt eine postapokalyptische Wüste. Es gibt kein Entrinnen von der Stadt und es gibt kein Entrinnen vor Judge Dredd, dem härtesten aller „Judges“, als personifiziertes Gesetz und Gewaltmonopol mit dem wenig subtilen Schlachtruf „I am the law“ lehrt er Kriminelle und Unbescholtene das namensgebende Fürchten (dread).

„Judge Dredd“ (1995) (© Universum Film)

„Gute Menschen wissen nicht genau, ob sie sich mehr über den Pop-Faschismus der Serie oder über ihre maßlosen Geschmacklosigkeiten empören sollen. Schlechte Menschen, wie unsereiner, grummeln etwas von Reflexion des Mythenzerfalls, postmodernem Meta-Diskurs und Baudrillard. Aber in Wirklichkeit macht uns der Scheiß einfach einen Heidenspaß“, diagnostiziert Georg Seeßlen 1995 angesichts des Kinostarts der Adaption mit Sylvester Stallone. Sie wurde viel kritisiert, nicht zuletzt, weil das Gesicht des seit den 1980er Jahren auf Actionhelden im Stil von Rambo und Rocky abonnierten Topfilmstars nicht hinter dem für Judge Dredd typischen Helm verborgen wurde, ein Detail, das vor allem in Fankreisen für Ablehnung gesorgt hat. Seeßlen assoziiert den Helm mit der Henkersmaske. Die Gesichtsbedeckung schafft Distanz zu seinem martialischen Tagesgeschäft. Dabei ist der Street Judge Dredd (der übrigens immer mal wieder in den Comics seinen Helm absetzt; es ist Dredds Antlitz, dessen die Leserinnen und Leser nie ansichtig werden) kein Unbekannter, im Gegenteil, sein Ruf eilt ihm voraus und auf seiner Brust prangt das Abzeichen der Justizbehörde, auf dem gut leserlich sein gefürchteter Name zu erkennen ist.

Seit über 40 Jahren laufen die Geschichten über Joe Dredd in der britischen Comiczeitschrift „2000 AD“ und seit 30 Jahren im „Judge Dredd Megazine“ (sic), genauer seit März 1977. In dieser Zeit ist viel passiert und die Geschichten über den unbeugsamen Judge sind zu viele geworden, um sie noch leicht überschauen zu können. Allein die bisher vorliegende Werkausgabe umfasst über 30 Bände im Telefonbuchformat. Dazu kommen zwei Hollywood-Filme, mehrere Computer- und sogar Brettspiele. Trotz gelegentlicher Momente der Besinnung ist Judge Dredd eines geblieben: der Vollstrecker einer faschistischen Regierung, die mit drakonischen Mitteln eine Nomokratie aufrechterhält.

2000AD #1

Nur selten verhängt Dredd eine Todesstrafe, aber Widerstand gegen die Polizeigewalt endet in seinen Geschichten regelmäßig mit dem Tod, und da Gewaltdarstellungen ein basaler Bestandteil seiner Geschichten ist, kommt es regelmäßig zu Widerstand gegen die Polizeigewalt. Das Judge-Dredd-Franchise verherrlicht groteske Gewalt als Schauwert und Unterhaltung, doch es verherrlicht nicht die Gewalttätigen. Dredd und seine Mitarbeiter sind keine Idealfiguren, denen es nachzueifern gilt. Es sind satirische Geschichten, die durch radikale Überspitzung auf Missstände aufmerksam machen, aber eben vermischt mit unterhaltsamen Gewaltexzessen, wenn man das unterhaltsam findet.

Jump Cut zurück ins Jahr 2020. Unter dem Titel „Judge Dredd: Mega-City One“ plant Jason Kingsley, der Chef des Verlags hinter 2000 AD, eine Fortsetzung des 2012 mit Karl Urban (jüngst in „The Boys“ auf Netflix zu sehen) gedrehten Films „Dredd“, der nachträglich positiv aufgenommen wurde, am Box Office aber scheiterte. Angedacht und seit Sommer 2020 fertiggeschrieben, ist eine TV-Serie, deren Produktion nur noch von der aktuellen Covid19-Pandemie verzögert wird.

In jüngerer Zeit wurde „Judge Dredd“ vermehrt diskutiert. Die Comics gelten gleichsam als prophetisch, weil sie Entwicklungen vorhersagen, die sich in vergleichbarer, wenn auch milderer Form unter der aktuellen US-Regierung zeigen. Dabei beziehen sich Dredds Erfinder John Wagner und Carlos Ezquerra ostensiv auf Alvin Tofflers Buch „Future Shock“ (dt. „Der Zukunftsschock. Strategien für die Welt von morgen“). 1970 vorgelegt und 1980 von „The Third Wave“ (dt.: „Die dritte Welle. Zukunftschance. Perspektiven für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts“) ergänzt, entwickeln Tofflers Denkfiguren einen großen Einfluss. Geläufig ist seine Idee, dass Waren im 21. Jahrhundert nicht weiter standardisiert werden, sondern im Gegenteil maximal individualisiert. Als „Future Shock“ prophezeit Toffler einen Zustand, der Menschen befällt, die sich dem von ihm angenommenen immer schneller werdenden technologischen Wandel und der konstanten Überreizung durch eine grenzenlose Informationsflut nicht anpassen können. Im Judge-Dredd-Universum werden daraus „Futsies“, psychisch labile Menschen, die den Zugriff auf die Wirklichkeit verlieren, kriminell werden und damit in den Arbeitsbereich der Judges fallen. Das ist ohne Frage ein bequemer Mechanismus, um neue Geschichten für die wöchentlich erscheinende Comicserie zu motivieren, bietet aber auch Gelegenheit, Alltagsphänomene und -probleme durch die Vergrößerungslinse einer grotesken Zukunftserzählung zu fokussieren.

„Dredd“ (2012) (© Universum Film)

Wie eine überschaubare Zahl von Memes zeigt, erfreut sich „Judge Dredd“ in konservativen Kreisen Amerikas als Stellvertreter einer Law-and-Order-Logik zumindest begrenzter Beliebtheit. Als Totalitarismus-Satire sind die Wurzeln des Comics jedoch durchweg liberal. Der Comic macht keinen Hehl daraus, auch ohne seine Botschaft unentwegt ausbuchstabieren zu müssen. In einer frühen Folge setzen Wagner und Alan Grant (unter dem Pseudonym T.B. Grover) Dredd auf den korrumpierten Judge und ehemaligen Freund Gibson an. Als Dredd ihn verhaften will, erinnert Gibson ihn daran, dass sie während ihrer Ausbildung an der Akademie einander versprochen hätten, alle zukünftigen Auseinandersetzungen persönlich mit den Fäusten zu klären. Dredd stimmt zu. Das gibt erzählerisch Anlass für einen Showdown im Western-Stil, zeigt aber auch, dass der Richterhenker seine Privatversprechen und damit sich selbst über das Gesetz stellt. Dredd ist also keineswegs unkorrumpierbar, er ist gerade kein Idealbild von Rechtschaffenheit und Gesetzestreue – und soll es auch nicht sein. Ein anderes Beispiel sind die „Troggies“, „weird types from the 20th century who couldn’t adjust to the furious pace of modern life“, wie Dredd sie beschreibt. Sie leben verdrängt von den „Normalos“ in aufgegebenen Tunneln der New Yorker U-Bahn, wo ihr Anführer Slick Willy, der sich wie das Klischee eines Rock-and-Roll-Sängers der 50er Jahre gebärdet, in typischer Comic-Bösewicht-Manier Rache für ihre Ausgrenzung plant. Jenseits der burlesken Komik der Figuren geht es hier Grunde um die Marginalisierung eine Gruppe nicht gesellschaftskonformer Menschen, die in überspitzter Weise Gehör finden wollen. Dazu planen sie einen katastrophalen Bombenanschlag, der Mega-City One zerstören soll – und damit auch sie selbst.

Seite aus „Judge Dredd“ (© 2000AD Comics)

Im selben Jahr wie Tofflers „Future Shock“ erscheint Hannah Arendts Buch „Macht und Gewalt“. Ahrendt kritisiert darin u. a. die titelgebenden Begriffe und ihre Verwendung in der Politikwissenschaft. Wichtig ist ihr die Unterscheidung zwischen Macht, „der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ Folglich ist Macht eine kollektive Erscheinung und niemals der Besitz eines einzelnen Menschen. Denn, „[w]enn wir von jemand sagen, er ‚habe die Macht‘, heißt das in Wirklichkeit, daß er von einer bestimmten Anzahl von Menschen ermächtigt ist, in ihrem Namen zu handeln.“ Gewalt dagegen ist „durch ihren instrumentalen Charakter gekennzeichnet“; d. h. Gewalt kann es nicht ohne Werkzeuge, Gewaltmittel geben, die von Einzelnen verwendet werden kann, um einen Zweck zu erreichen. „Es hat nie einen Staat gegeben, der sich ausschließlich auf Gewaltmittel hätte stützen können“, schreibt Ahrendt. „Selbst die totale Herrschaft, deren wesentliche Herrschaftsmittel Konzentrationslager, Polizeiterror und Folter sind, bedarf einer Machtbasis“, als der Zustimmung der Vielen. „Selbst das despotischste Regime, das wir kennen, die Herrschaft über Sklaven, die ihre Herren an Zahl immer übertraf, beruhte nicht auf der Überlegenheit der Gewaltmittel als solchen, sondern auf der überlegenen Organisation der Sklavenhalter, die miteinander solidarisch waren, also auf Macht.“ Die Marginalisierung der Troggies bedarf nicht der Gewalt der „Normalos“, denn Sie haben durch Übereinkunft die kollektive Macht dazu. Die Troggies dagegen suchen das Gewaltmittel des Terrors, um sich gegen die Vielen zu verteidigen. Die Erhaltung ihrer Macht legen die „Normalen“ in die Hände der Richterhenker. Diese verwenden Gewaltmittel, um die Andersdenkenden ihrerseits mit Terror zu unterdrücken. „Solange Roboter Menschen nicht ersetzt haben, hat kein einzelner Mensch ohne die Unterstützung von anderen je die Macht, die Gewalt wirklich loszulassen. So hat auch innenpolitisch die Gewalt immer die Funktion eines äußersten Machtmittels gegen Verbrecher oder Rebellen, das heißt gegen Einzelne oder verschwindende Minderheiten, die sich weigern, sich von der geschlossenen Meinung der Mehrheit überwältigen zu lassen. Es ist normalerweise die Übermacht dieser Mehrheit und ihrer ‚Meinung‘, die die die Polizei beauftragt bzw. ermächtigt, mit Gewalt gegen die vorzugehen, die sich ihrem Machtanspruch entziehen“, so Ahrendt.

So betrachtet sind nicht Judge Dredd und seine Kollegen und Vorgesetzten das faschistische an der Gesellschaft von Mega-City One. Sie sind lediglich das erkennbare Symptom einer Gemeinschaft, die die polizeiliche Gewaltausübung durch ihre eigene Machtausübung billigt und unterstützt. So sehen wir denn auch in vielen Geschichten Bürgerinnen und Bürger, die Judge Dredd freundlich zugewandt sind.

Seite aus „Judge Dredd“ (© 2000AD Comics)

Dass Judge Dredds Gründungsautoren liberale Positionen vertreten, die im jungen 21. Jahrhundert noch so aktuell sind wie in den 1970er Jahren, zeigt sich sehr deutlich an zwei aufeinanderfolgenden Storys aus dem ersten Jahrgang. In der ersten wird Dredd der Rookie Judge Giant zugewiesen, der nach erfolgreich absolvierter Ausbildung seine Eignung unter realen Bedingungen – im Comic bezeichnenderweise „combat conditions“ genannt – unter Beweis stellen muss. Der Afroamerikaner Giant wird als Sohn des früheren Kapitäns der Aeroball-Mannschaft „Harlem Heroes“ eingeführt, eine Anspielung auf die Harlem Globetrotters, die spätestens seit den frühen 1970er Jahren durch die Hanna-Barbara-Cartoons und Comics auch in Europa bekannt wurden. Giant begeht einen für Dredd beinah tödlichen Fehler, erhält jedoch überraschend eine zweite Chance. Mit der Bravour eines Superhelden verhindert er den Mord an einem Kind und stellt sich schließlich Dredd selbst in den Weg. Dieser droht den erlegenen Kriminellen damit, sie zu ermorden: „Scum, you habe broken the laws of Mega-City 1. I could give you prison sentences, but we Judges have a quicker answer. My report will read killed while trying to escape.” Giant besteht auch diesen finalen Test, indem er das Gesetz auch gegen Judge Dredd verteidigt. Am Ende des Comics wird mit Stolz geschwellter Brust im Beisein seines Vaters Giant in den Rang eines Full Judge erhoben. Statt mit seinem gebrechlichen Vater zu feiern, lässt er ihn jedoch zurück, um seinen neuen Dienstverpflichtungen nachzugehen, die für eine Familie offenbar keinen Raum lassen. Liebe hat bei den Judges keinen Platz und so erscheinen Judge Dredds abschließenden Worte keineswegs so erhebend, wie sie wohl von der Figur gemeint sind: „Nevermind, citizen Giant. Look at it this way – you’ve lost a son, but Mega-City 1 has gained a darned fine Judge.” In einer Zeit, in der Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner langsam auch in Comics als Heldinnen und Helden repräsentiert werden (1966: Black Panther; 1969: Falcon; 1972: Luke Cage; 1973: Blade), widmet „Judge Dredd“ eine Episode dem Aufstieg von Judge Giant und bringt ihn auch später als Nebenfigur wieder. Dass Giant eine Nebenfigur in einer augenscheinlich hauptsächlich von Weißen bewohnten Megametropole ist, ist freilich selbst Symptom einer Marginalisierung von People of Color.

Die unmittelbar darauffolgende Episode untermauert die liberale Haltung der Autoren. Sie befasst sich mit dem Ku Klux Klan, in Dredds Zukunftswelt als Neon Knights bezeichnet, der Roboter auf offener Straße jagt und lyncht. Zu Beginn der Geschichte verteidigen Bürgerinnen und Bürger an einem Tatort den Lynchmob, der die Roboter auf ihren rechtmäßigen Platz verweise. Die Anrede der Roboter als „boys“, Kleidung und Bezeichnung des Klans lassen keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich bei der Geschichte um eine Parabel über US-amerikanischen Rassismus handelt. Dredd entlarvt den Anführer des Klans als Cyborg, halb Mensch, halb Roboter, der seinen Selbsthass an den Robotern auslässt. So simpel diese Auflösung und so hölzern die Geschichte als ganze ist, bezieht sie doch eindeutig eine progressive Position.

Seite aus „Judge Dredd“ (© 2000AD Comics)

Vorausgegangen war der Story ein längere Handlungsbogen über einen Aufstand der Roboter. Angeführt von dem Roboter K12 Call-Me-Kenneth unterwerfen sie die Bewohnerinnen und Bewohner von Mega-City One, um sich von ihrer Unterdrückung zu befreien. Den Auftakt des Handlungsbogens markiert eine Demonstration auf einer Roboterausstellung, bei der ein neues, offenbar fühlendes, selbstbewusstes, mit eigenem Willen ausgestattetes Modell vorgeführt wird, das sich auf Befehl seines menschlichen Meisters – getreu den Asimov’schen Gesetzen der Robotik – unter Tränen selbst verbrennt. Judge Dredd warnt davor, dass diese unmenschliche Behandlung der immer menschenähnlicheren Roboter ein schlechtes Ende nehmen werde. Um es zu verhindern schlägt er vor, alle hochentwickelten Roboter vernichten zu lassen, was ihm verwehrt wird. In einer pathetischen Szene legt er daraufhin sein Amt nieder und es kommt unausweichlich zum verlustreichen Krieg mit den Robotern, den Dredd schließlich gewinnt. Auch dieser Handlungsbogen ist simpel, doch er führt zumindest anschaulich vor, was Ahrendt als „das despotischste Regime“ beschrieben hat: die Sklaverei. Die Komplizen des als Showman auftretenden Sklavenbesitzers (oder Programmierers) sind die Zuschauenden, die der gewaltsamen Vorführung aufmerksam folgen und ihm so ihre Macht übertragen. Subtil ist das nicht.

Dredd ist hier kein moralischer Held, der die Sklaven aus ihrer unverschuldeten Unmündigkeit befreit. Er schlägt den Aufstand letztlich nieder, weil die Roboter das Gesetz brechen, denn das Gesetz gelte für Menschen und Roboter. Die Frage, wer die Gesetze aus welchen Gründen macht und ob sie gut sind, stellt er nicht. Wenn Dredd im längeren Cursed-Earth-Handlungsbogen in einem großformatigen Panel über seine Feinde konstatiert, dass sie Mitleid verdienen, nicht Rache, und dass ein Judge streng zu sein habe, aber auch gnädig und barmherzig, kann jedenfalls kein Zweifel daran bestehen, dass die Titelfigur komplexer ist als mancher Superhelden-Haudrauf. Abweichend von den Geschichten, die in der Comicserie erzählt werden, und im starken Kontrast zu dem Bild, das von Mega-City One vielfach gezeichnet wird, würden 99 Prozent der Kriminellen rehabilitiert, ein nicht nur progressiver Ansatz, sondern eine nachgerade utopische Zahl – besonders im Vergleich zu den seit den 1980er Jahren in den realen USA explodierenden Inhaftierungszahlen bei deutlicher Betonung des Bestrafungsaspekts gegenüber Resozialisierungsprogrammen und unter weit strengeren Bedingungen, als sie in Europa üblich sind, etwa hinsichtlich der Länge von Isolationshaft.

Toffler hat einen gewaltigen Durchsatz fiktionaler Figuren prophezeit. Er zitiert Marshall Fishwick, den „Vater“ der Popular Culture Studies, demzufolge Figuren wie Superhelden bald schon wieder verschwunden sein könnten. Offenkundig irrten Fishwick und Toffler, denn Judge Dredd hat sich wie viele andere popkulturelle Comicfiguren als äußerst langlebig erwiesen. Seine frühen Geschichten sind holzschnittartig verkürzt, aber sie bieten ein gewaltiges Potential für progressive Lesarten, die Judge Dredd in der heutigen Zeit vielleicht so relevant machen wie nie. Warten wir ab, was Jason Kingsley in seiner neuen Serie daraus macht. Vielleicht leistet sie einen Beitrag dazu, nicht mit einem „Future Shock“ umzugehen, aber Alltagsrassismus begreiflicher zu machen, und die „law and order“-Faszination nicht als Lösung vorzuführen, sondern als Teil eines weitreichenden gesellschaftlichen Problems beiderseits des Atlantiks.

Anmerkungen:
1 Hannah Ahrendt: Macht und Gewalt. 3. Aufl. München: Piper 1975, S. 45.
2 Ahrendt: Macht und Gewalt, S. 47.
3 Ahrendt: Macht und Gewalt, S. 51.
4 Ahrendt: Macht und Gewalt, S. 52.

Christian A. Bachmann, geboren 1982, hat vergleichende Literaturwissenschaft und Linguistik in Bochum studiert und wurde 2015 promoviert. Seit 2010 ist er als Wissenschaftsverleger mit dem Schwerpunkt Comicforschung tätig (www.christian-bachmann.de). Zurzeit arbeitet er außerdem als wissenschaftlicher Mitarbeiter in einer Forschergruppe an den Universitäten Bochum, Köln und Marburg. Über Comics, Bildergeschichten und Karikaturen hat er mehrere Bücher geschrieben und herausgegeben. Unterrichtet hat er in Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz.