Konfrontative 3D-Poesie – „Dredd“

© Universum Film

In einer unbestimmten Zukunft zieht sich die Menschheit nach einer nuklearen Katastrophe ins letzte bewohnbare Refugium eines urbanen Hyperkomplexes an der Ostküste der USA zurück, wo gewaltige Hochhaus-Megastrukturen die Funktion heutiger Großstädte übernehmen. Das Justizsystem ist flexibilisiert: Schwerbewaffnete, gepanzerte „Judges“ sind als Polizisten, Richter und Henker in Personalunion auf den Straßen unterwegs – Verhaftung, Urteil und Vollstreckung fallen in eins: Hardboiled Wonderland nach dem Ende der Welt, „Mad Max“ vor dystopisch-urbaner Kulisse.

So weit die Comicvorlage „Judge Dredd“, so weit der Film. Bereits in den 90ern gab es eine – von Fans der Vorlage leidenschaftlich abgelehnte – Adaption in Form eines kunterbunten Bubblegum-Movies mit Sylvester Stallone. Anders als diese zelebriert der neue Film eine Entdeckung der Langsamkeit der ganz eigenen Art: Eine Droge namens „Slowmo“, die die Zeitwahrnehmung ins Zehnfache zerdehnt, erfreut sich in der degenerierenden Bevölkerung zunehmender Popularität. Unschwer ist sie als „aesthetic device“ erkennbar, als narrative Begründung für skulpturale Tableaus in reinster 3D-Poesie: Die Stürmung einer Wohnung etwa, im Thriller üblicherweise ein Moment von Plötzlichkeit und mal mehr, mal weniger präziser inszenatorischer Hektik, gerinnt unter „Slowmo“ zum traumwandlerischen Ballett einer exzesshaft-technoiden Skopophilie, als würde sich das Kino in seiner künstlichsten Form daran erinnern, dass es seinen Ursprung in den rein dokumentarischen Phasenbildern eines Eadweard Muybridge hat, denen es um die Sichtbarmachung rasend schneller, den Sinnesapparat unterlaufender Bewegungsabläufe ging: In „Dredd“ gerät Körperfett in Wallung, ballistische Geschosse durchstoßen weiches Menschengewebe, Menschen stürzen unendlich langsam in die tödliche Tiefe (ein Horror-Drogentrip gänzlich eigener Art), die Welt wird überscharf, überhell, überbrutal(istisch). „Dredd“ ist in dieser Hinsicht ein reines, düsteres Kino-Poem, geschrieben in Beton und Blut. Der Überwältigung durch Beschleunigung des jüngeren Actionkinos setzt „Dredd“ die grimmige Insistenz des Präsentischen entgegen: Die Welt als betastbares Action-Setpiece, als nicht fixierte Körperplastik im zähen Zeitfluss.

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Hochkonzentriert ist „Dredd“ nicht nur in diesen Momenten, sondern auch ganz buchstäblich: Aus den Begrenzungen, denen sich ein niedrig budgetierter Actionfilm zu stellen hat, schlägt er Gewinn. Fast in Echtzeit erzählt er eine minimalistische Story, die sich des mythensatten Barocks, mit dem sich Comicverfilmungen zuletzt obligatorisch schmücken zu müssen meinten, mit leichter Hand entledigt: Ein Einsatz führt Judge Dredd (Karl Urban, von dessen Gesicht im Film nichts zu sehen ist, außer einem trotzigen Kinn und straff nach unten gezogenen Mundwinkeln) samt der jungen Anderson (Olivia Thirlby), die als „Judge“ ihren ersten Testtag im Feld hat, in einen Hochhauskomplex, der sich im Griff der asigen Superschurkin Ma-Ma (Lena Headey) befindet. Die verriegelt den Komplex und erklärt die beiden Vertreter von Recht und Ordnung zum Freiwild. Raum, Zeit, Interessenslagen – klare Ansagen, klare Stoßrichtungen. „Dredd“ pflegt einen konzentrierten Minimalismus der Sachlage, der Genrefilmen auch im Zeitalter ihrer zentrifugalen Überbordungen durchaus gut tut: Der Zufall will es, dass „Dredd“ in Deutschland zeitgleich mit dem weit über die Grenzen der Lächerlichkeit hinaus monströs aufgeblasenen Science-Fiction-Maskenball „Cloud Atlas“ ins Kino kommt: Wo dieser bläht und wuchert und aus schmalen Ideen großmetaphysische Luftballons aufsteigen lässt, fasziniert „Dredd“ mit düsterem Kino-Existenzialismus der klaren Anordnung: Wie dem Moloch entkommen, bei einem Verhältnis von 2:10.000?

„Dredd“ macht sehr viel fabelhaft richtig und zeigt, wie No-Nonsense-Genrekino mit Science-Fiction-Anstrich zeitgemäß aussehen kann, wenn Handwerker wenig auf Marktforschung, aber einiges auf die eigene Skrupellosigkeit und ästhetische Vision geben: „Dredd“ suhlt sich regelrecht in der Verkommenheit – und schafft dabei noch das Kunststück, unter all das Gematsche, Geballer und Gekeife einen veritabel feministischen Kern zu heben: Interessanter noch als die Titelfigur ist tatsächlich die zur Telepathie befähigte „Rookie“ Anderson, die das taffe Vigilante-Auftreten der „Judges“ mit einem guten Rest ethischen Bewusstseins verbindet und zugleich, entgegen allen Erwartungen, nicht zum sexualisierten „love interest“ gerinnt. Im Gegenteil, in einer zentralen Szene schlüpft Anderson dank ihrer übersinnlichen Fähigkeiten in die Vorstellungswelt eines Gefangenen, um dort – wie nach seinen obszönen Sprüchen zu erwarten – auf dessen sexuelle Unterwerfungsfantasien zu stoßen. Wohl nicht wenige im Kinosaal dürften sich ertappt fühlen. „Rookie“ Anderson dreht den Spieß sogleich um und rächt sich innerhalb der Hirnwindungen: Mindfuck, buchstäblich. Das Objekt des männlichen Blicks wird zum Subjekt des eigenen Handelns, auch über die vierte Wand hinaus in den Saal. Ein konfrontativer 3D-Film auch in dieser Hinsicht, ein Meisterwerk sowieso.

Dieser Text erschien zuerst am 14.11.2012 in: perlentaucher.de

Dredd
Großbritannien 2012

Regie: Pete Travis – Darsteller: Karl Urban, Olivia Thirlby, Lena Headey, Wood Harris, Domhnall Gleeson, Deobia Oparei, Jason Cope, Langley Kirkwood, Rakie Ayola, Brandon Livanos – FSK: keine Jugendfreigabe – Länge: 96 min. – Start: 15.11.2012

Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel, den Perlentaucher und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.