Besser sehen mit Fil – „Worte über Orte“

Mit seinen beiden Erstlingswerken „Pullern im Stehn“ und „Mitarbeiter des Monats“ schuf der beliebte Comickünstler und Liedermacher Fil bereits zwei autobiografisch gefärbte Prosabände, die die Gesetze des epischen Erzählens neu definierten. Nun ist sein dritter Roman erschienen, oder, na ja, so eine Art Mittelding. Auf dem Cover von „Worte über Orte – Die Reisen des Fil“ ist von einem „heimlichen Dreiviertelroman“ die Rede. Hier gefällt sich der Verlag in vornehmem Understatement, denn tatsächlich bekommt man mit dem Erwerb des Buches nicht nur einen Roman – da ist noch so viel mehr! Das Universum des Fil besteht nicht aus einem Anfang, einer Mitte und einem Ende – es ergibt sich aus dem kühnen Miteinander dramatischer Scherben, die sich zu immer neuen Wunderbildern zusammenfügen. Erst in der Vorstellungswelt des Lesers vereinigen sich die Fragmente und zwingen ihm eine Zauberbrille auf, die viele Dinge klarer erscheinen lässt. Bahnbrechende Lyrik und sinnige Sentenzen sind der Kitt, der dem Fortsetzungsroman seinen Zusammenhalt sichert.

Fil: „Worte über Orte. Die Reisen des Fil“.
Ullstein, Berlin 2020. 336 Seiten. 10,99 Euro

Weckt der Untertitel des Buches Erinnerungen an die klassische Reiseliteratur (etwa Anselm Touchés aufwühlende Berichte über seine langjährigen Erkundungen fremder Kontinente), so geht es hier scheinbar banal um die Erlebnisse einer Autorenreise, mit dem Buch unterm Arm an ständig neuen „Locations“ aufschlagend, immer auf der Durchreise, niemals am Ziel. Das Schicksal des ewigen Gastes wird hier mit viel Sachkenntnis und Einfühlungsvermögen in all seinen Facetten geschildert. Manchem wird das nicht genug sein. War es nicht das Ziel der Reiseliteratur, die oftmals beschränkte Vorstellungswelt der Leser durch nie für möglich gehaltene Einsichten in fremde Kulturen zu erweitern, die Drachen, die in der „Terra Incognita“ lauern, durch Aufklärung zu vertreiben? Fil macht es nicht anders, denn der Teufel steckt im Detail der Betrachtungsflut, die er über dem Leser, einem Aufklärungsschwall gleich, verströmt. Ob er nun im Westen oder im Osten unseres Landes unterwegs ist oder ihn sein Weg sogar in das geheimnisvolle Afrika führt („Addis Abeba!“) – die Reise führt in letzter Instanz immer in den Künstler hinein, in sein Werk. Aber auch in den Leser, denn jenem wird unglaubliches Geheimwissen offenbart über die Natur und den Weltengang. Ich raffe jetzt erst die ganzen Zusammenhänge! Spanien und Portugal, wer hätte das gedacht? Wissende Schlaglichter werden geworfen auf das kleine Mädchen, das im Mächtigsten lauert, das Lamm im Schafspelz.

Wie üblich arrangiert Fil seinen bunten Strauß an Absonderlichkeiten als Parforceritt durch die literarischen Genres. Was zunächst wie ein sensibles Künstlerdrama beginnt, nagt schon bald an den Nerven als Horrorschocker, in dem auch die Geister von Goethe und Kürten (Peter? Dieter?) ihren Platz haben. Geheimagenten, Außerirdische, sabbernde Gnome, widernatürliche Sexspiele und der Verrat am Punk geben sich ein Stelldichein und fordern den Leser zur Reflexion heraus. Realistische Zustandsbeschreibung (Autorenlesungen habe ich selbst genügend absolviert – es IST so!) wechselt sich ab mit surrealer Überhöhung, und dazwischen winken Orgien sinnlicher Ausgelassenheit. Der Einfall des Autors, sich selbst als Protagonisten zu besetzen, hätte leicht ins Auge gehen und zu einer peinlichen Nabelschau geraten können, doch mit äußerster Konsequenz weist Fil der Eitelkeit die Tür und zwingt sich zu einer knapp bemessenen Aufrichtigkeit, die manchmal fast Schmerzen bereitet. Also: Wer die „Didi & Stulle“-Comics mag, kann bedenkenlos zugreifen. Wer intensives Psychodrama und scharfe Schwedenpornos bevorzugt, aber auch. Ich habe durch die Lektüre viel gelernt: über den Punk der 80er, Buchläden, Spätkauf-Tresenkräfte (=Lieblingstext!), unsere Bundeskanzlerin, Fils Glied, das Goethe-Institut, Facebook, meine Heimatstadt Bremen und vieles andere mehr. Erneut ein großer Wurf – der neue Steuermann an Bord des „Fliegenden Holländers“, auf dem ich in alle Ewigkeit segeln und Fil-Bücher lesen möchte!

Christian Keßler, Jahrgang 1968, studierte Germanistik und Amerikanistik in Göttingen und Oldenburg. Neben seiner fast 20 Jahre währenden Arbeit für das Berliner Filmmagazin Splatting Image verfasste er zahlreiche Texte für internationale Publikationen. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen Werke über den italienischen Western oder das amerikanische Hardcore-Kino der 70er Jahre. Außerdem ist er der geistige Vater des überaus sonderbaren Kommissars Ernst, der in Keßlers Heimatstadt Bremen ermittelt. Allein im Martin Schmitz Verlag erschienen bis heute acht Veröffentlichungen, zuletzt „Gelb wie die Nacht. Das italienische Thrillerkino von 1963 bis heute“.