Kommt ein Igel zur Bank – „Adamstown“

„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen“, schreiben Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“. „Aber die Mythen, die der Aufklärung zum Opfer fallen, waren selbst schon deren eigenes Produkt.“ Daher ist es nicht verwunderlich, wenn sich an die Stelle der Aufklärung neue Mythen setzen, die die Menschen in wiederum neuen Unfreiheiten gefangen halten. Für diese Dialektik der Aufklärung findet Verena Braun in ihrem Comic „Adamstown“ Bilder, und mehr noch, sie zeigt vermeintliche und reale Fluchtwege aus den Unfreiheiten, die die Menschen und – in der Welt von „Adamstown“ – die Tiere umgeben.

Verena Braun (Autorin und Zeichnerin): „Adamstown“.
LouBlancProductions, Hamburg 2015. 136 Seiten. 20 Euro

Der Mythos der irgendwo in Amerika liegenden Stadt Adamstown basiert auf einer Legende der Kaui-Indianer, einst von Stadtgründer Adam Sanders zur Stärkung seiner Position in der Stadt benutzt: Die Legende besagt, die Stadt sei auf dem mit einem Fluch belegten Gebiet der Kaui-Indianer erbaut, wo einzig Tiere in der Lage sind, Gebäude zu errichten – und nur der Bau einer Bank kann diesen Fluch beenden. Tiere haben in der Stadt jedoch, abgesehen von einigen gezähmten Haustieren, die die Gebäude instand halten, keinen Zutritt: „Willkommen in Adamstown, wenn du kein Tier bist“, grüßt ein Schild am Stadteingang, seit die Freundschaft von Adam Sanders, einem Menschen, und Steve Johnson, einer Made, in die Brüche ging. Tiere sind in der Realität von Adamstown – wir befinden uns schließlich in einer Comicwelt – den Menschen ähnlich, sie sprechen, tragen Kleidung, gehen Beziehungen ein, auch zu Menschen. Sie sind den Menschen ähnlich, aber dennoch nicht ganz gleich. Verena Brauns Comic ist auf dieser Ebene eine Parabel auf den Rassismus im Amerika vor der Bürgerrechtsbewegung, aber mehr noch: eine Analyse von Unterdrückung und Aberglauben, Ausgrenzung und Religion in Comicform. Und die Abbildung einer permanenten Suche nach Auswegen aus dem Elend, das die Gesellschaft als Normalität vorgibt. Denn die Bevölkerung von Adamstown, allesamt Nachkommen von Adam Sanders, der zurückgezogen in seinem Haus lebt, steckt im Dilemma: Einzig die ausgegrenzten Tiere könnten an ihrer Lage etwas ändern, jenes andere, bessere Leben ermöglichen, das sich alle wünschen, jedoch sind diese Tiere mit der Zeit zur projizierten Gefahr für die Dorfgemeinschaft geworden – nicht gänzlich zu Unrecht, versucht doch im Laufe der Geschichte die Madenfamilie Johnson die Stadt mit Gewalt und Geld unter ihre Kontrolle zu bringen.

Während in Adamstown der Kampf um Mythos und Wahrheit, Macht und Ausgrenzung tobt, geht außerhalb der Stadt alles seinen gewohnten Gang: Busse und Autos transportieren die Menschen und Tiere, Fabriken und Banken sorgen für den reibungslosen Ablauf des kapitalistischen Systems. Einzig Adamstown erscheint wie ein aus der Zeit gefallener Ort, in dem noch immer die Gesetze des Wilden Westen gelten: Schießereien sind an der Tagesordnung, die Geschlechterverhältnisse sind klar organisiert und die Ordnung wird über den Ausschluss eines Teils der Gesellschaft, der Tiere, und den Mythos vom Fluch der Kaui-Indianer aufrechterhalten.

Seite aus „Adamstown“ (© Verena Braun)

Zwischen dem Wunsch, dass alles so bleibe wie es ist, und der Hoffnung auf eine bessere Welt jenseits der Gefangenschaft durch den Fluch, leben die Menschen vor sich hin und suchen nach Auswegen. Ein solcher kann eigentlich nur sein: Tiere bauen eine Bank. Doch der Staat, der das letzte Fleckchen vom Kapitalismus unberührten Terrains zu erobern sucht, kommt den Einwohnern zuvor: Ein Pferd, eine Katze, ein Vogel und ein Igel werden angeheuert, um mithilfe des ehemaligen Schauspielers Randolf Scott, der in der Stadt zu Gast ist, eine solche Bank zu bauen. Die vier Tiere, Julius Walker, Miranda ­Frenzy, Quentin Hansson und Hans Muller, begeben sich heimlich nach Adamstown, wo sich die Aufgabe als komplizierter erweist als gedacht. Sie zerstreiten sich, halten jedoch, jeder für sich und mithilfe unterschiedlicher Einwohner der Stadt, an ihrem ursprünglichen Plan fest, sodass Adamstown letztendlich mit vier Banken gesegnet beziehungsweise gestraft ist. Nebenbei überwinden die Tiere den Mythos als Aberglauben und entzaubern die von Adam Sanders geschaffene Welt: Die angebliche Kultstätte der Kaui stellt sich als eigens zur Untermauerung des Mythos gefertigtes Konstrukt des Stadtgründers heraus.

So verwandelt sich Adamstown dank der Tiere von einer Westernstadt mit Pferden, Schießereien und Prügeleien in eine ganz normale „große Stadt, mit all ihren Problemen“, wie der Geschäftsmann Darlington nicht ohne Wehmut resümiert. Der Zauber des Zeitlosen, der Verweigerung gegenüber den Entwicklungen der Gesellschaft, das Festhalten am alten Mythos sind unweigerlich verloren gegangen. Was bleibt ist ein neuer Mythos, der den alten ersetzt: jener des Geldes. „Willkommen in Adamstown, zollfrei einkaufen im Stadtstaat“, heißt es mittlerweile auf dem Ortsschild. Tiere sind nun willkommen, sofern sie Kapital mit in die Stadt bringen.

Die Tiere sind zu Investoren und Bankdirektoren geworden, Autos machen keinen Bogen mehr um Adamstown und nichts ist mehr geblieben vom alten, wilden Westerncharme: „Die Macht des Geldes“, kommentiert Adam Sanders. Ob alle nun gefunden haben, was sie sich gewünscht haben, lässt Verena Braun offen.

Seite aus „Adamstown“ (© Verena Braun)

Einer jedoch hält an der Suche nach einem Ausweg aus dieser nunmehr neuen Gefangenschaft, jenem neuen Mythos des Kapitalismus fest: Der Igel Hans Muller entkommt den Fängen der neu organisierten, kapitalistischen Stadt und wird statt zum Bankdirektor zum Musiker. Doch auch in seiner aus Ratten bestehenden Band lauert der Konkurrenzdruck: „Dann können wir ja nächste Woche am Bandwettbewerb teilnehmen“, lautet der letzte Satz. Die Kunst ist nicht frei, immer bleibt man Gefangener in den Strukturen der Gesellschaft, den Erwartungen ausgeliefert.
Doch auch wenn Hans am Ende in seiner Flucht in die Musik nur scheinbar frei wird, so legt Verena Braun hier dennoch eine Spur hin zu einer Möglichkeit der Freiheit in der Kunst. Die Zeichnerin selber entzieht ihre Kunst der einfachen Verwertung durch ihre Herangehensweise.

Verena Brauns Comics entwickeln sich organisch: Figuren werden in einem Experiment einem Setting – hier: der Westernstadt – ausgesetzt und aus diesem Moment, dieser Idee, entwickelt sich die Handlung. In der langen Tradition einer experimentellen Herangehensweise an den Comic, die oft schon zu erstaunlichen Ergebnissen geführt hat, haben die Figuren ein Eigenleben, eine Vergangenheit, einen Charakter: ihr Wissen um ihre früheren Rollen und Erlebnisse. Dieses Wissen nehmen sie mit in die ihnen von der Zeichnerin neu zugedachte Rolle, mit diesem Wissen kämpfen und hadern sie, und sie verstehen, es zu nutzen. Verena Braun fordert viel von ihren Lesern: Konzentration, die Zeit, hinter die Zeichnungen zu schauen, das große Ganze sehen zu wollen. Dabei scheint jener Ausweg auf, der im Comic selber von den Protagonisten gesucht wird: Alles selber machen, vom Lettering bis zur Herstellung, sich Strukturen verweigern und alles anders machen: Die Graphic Novel ist zugleich eine Oper. Der dazugehörige Soundtrack kann über einen im Buch abgedruckten Link heruntergeladen werden.

Die Tiere Julius Walker, Miranda Frenzy, Quentin Hansson und Hans Muller begleiten die Zeichnerin schon lange, die vier trafen schon einmal in der kurzen Geschichte „Glaubensfragen“ aufeinander, wo sie nach einem Ausweg aus dem Warten auf Antworten gesucht und diesen auch gefunden haben. Einfach mal losgehen: „Durch einen weiteren Zufall bin ich heute morgen die Treppe hinuntergegangen und habe eine Tür entdeckt, die nach draußen führt… “, sagt Miranda Frenzy dort. Diese Tür, die nach draußen führt, durchzieht als Utopie auch „Adamstown“. Sie zu öffnen, ist keinem der Protagonisten vergönnt. Sie zu suchen, bleibt dem Leser vorbehalten.

Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 36/2015

Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.

Seite aus „Adamstown“ (© Verena Braun)