Tosender Beifall – Gipis „Besondere Momente mit falschem Applaus“

Der Stand-Up-Comedian Silvano Landi begleitet seine sterbende Mutter auf ihrem letzten Weg. Während er täglich den Weg in das nahe Hospiz auf sich nimmt, kommen ihm schöne Kindheitserinnerungen an gemeinsame Strandbesuche mit seiner Mutter in den Kopf, als er sich mutig in die Wellen stürzte und wieder auftauchend triumphierte: „Ich habe überlebt!“ Seine Mutter wird es nicht überleben. Silvano telefoniert mit seiner Frau, mit seinem Agenten und er darf auch seinen Broterwerb nicht ganz und gar vernachlässigen. So kommt es dazu, dass er den Sterbeprozess der Mutter in seinen Bühnenauftritt integriert: „Entschuldigt die Verspätung. Ich war im Hospiz bei meiner Mutter, die liegt im Sterben.“

Wir begleiten Silvano durch diese schwere Zeit, können über die Pointen lachen und betroffen auf die traurigen Momente reagieren. Der Comic ist eine wilde Achterbahnfahrt durch eine komplexe Gefühlswelt, die man erst voll und ganz versteht, wenn man die Strecke mehrfach gefahren ist.

Gipis wunderschöne Aquarell-Landschaften wechseln ab mit seinem zittrig anmutenden Schwarzweiß. Damit knüpft Gipi an die weichere Bildsprache von „Eine Geschichte“ (2013, dt. 2022) an und entfernt sich von seinem schroffen Stil des unbeherrschteren „MSGL“ (2008, dt. 2015). Überhaupt ist auffällig, wie spät die Comics des italienischen Zeichners ins Deutsche übersetzt wurden und werden. In zeitlicher Nähe zu Gipis größeren Auszeichnungen mit dem René-Goscinny-Preis in Angoulême und dem Max-und-Moritz Preis in Erlangen (beide 2006) fanden einige Titel den Weg nach Deutschland, aber die kurz darauf veröffentlichten „S.“ und „MSGL“ brauchten ein halbes Jahrzehnt, bis sie bei Reprodukt ins Programm fanden. Auch „Eine Geschichte“ (2014, dt. 2022) und „Besondere Momente mit falschem Applaus“ (2019, dt. 2022) haben ein paar Jahre benötigt. Dass diese beiden Titel beim Avant-Verlag direkt aufeinander folgen, ist sehr passend, nicht nur stilistisch und angesichts des Formats – sie sind als Teile eines gemeinsamen Zyklus konzipiert und handeln beide von Silvano Landi.

© Avant Verlag

Die Erzählebenen von „Besondere Momente mit falschem Applaus“ fließen ineinander und überkreuzen sich, verschiedene Motive ziehen sich konsequent durch die einzelnen Ebenen: Das Wasser ist nicht nur symbolischer Ort von Geburt (Fruchtwasser) und Tod (Landung in der Normandie) und verknüpft den Protagonisten so mit seiner Mutter, sondern auch der zentrale Erinnerungsort seiner Kindheit (Strand) und Schauplatz seiner immer wiederkehrenden Kosmonauten-Phantasie. Diese Wiederholungsstruktur werden Gipi-Leser*innen aus seinen anderen Werken kennen, ebenso eine ganze Reihe von Themen wie den Tod eines Familienmitglieds oder den unvermittelt in die Erzählung einbrechenden Krieg.

„Besondere Momente mit falschem Applaus“ kommt harmonischer daher als manche seiner früheren Werke, auch haben seine Aquarelle viel Raum erhalten, und das größere Format lässt diese schön zur Geltung kommen. Im Gegensatz dazu steht der zittrige Strich seiner Schwarzweiß-Passagen – als würde eine große Unsicherheit über diese Welt hereinbrechen, die auch uns Leser*innen berührt. Niemand könnte unsicherer sein als die Hauptfigur. Abgesehen von … uns.

Wenn Gipi verschiedene Ebenen miteinander verzahnt, lässt er sich viel Zeit damit und seine Leser*innen zunächst im Dunkeln, ob dieser Strang real oder phantasiert ist, ob diese Passage eine symbolische Funktion hat oder jene die Nacherzählung einer Fernsehsendung ist. Gesehenes, Erinnertes, Geträumtes – Gipi lässt uns in seinem Comic baden und spielt durchgehend am Thermostat. Heiß. Kalt. Heiß. Wir sehen mit den Augen des Komikers eine TV-Sendung über „Der Soldat James Ryan“ und folgen einem anonymen Radiobeitrag, bei dem es sich um eine flüchtlingsfeindliche Wutrede von Beppo Grillo handeln könnte oder von Matteo Salvini, letztlich klingt das populistische Gezeter doch immer gleich. Und wir Leser*innen sind Silvano dankbar, als er das Autoradio ausschaltet.

Mit „Eine Geschichte“ hat der Avant-Verlag in diesem Jahr schon ein Gipi-Highlight verfügbar gemacht, das mit diesem Comic sogar noch übertroffen wird. Für diesen Comic gibt es keinen falschen Applaus, nur tosenden Beifall.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Gipi: „Besondere Momente mit falschem Applaus“. Aus dem Italienischen von Myriam Alfano. Avant-Verlag, Berlin 2022. 176 Seiten. 30 Euro