Mythenbasteln – „Madame Lambert“

© Éditions du masque / Edition Moderne

Das erste Bild ist undeutlich: Verschwommen zeigt es ein möglicherweise geniales Gemälde des möglicherweise genialen Malers Antoine Duhamel. Der spielt in Jerome Charyns Szenario eine zentrale Rolle: In dürren Worten und in atmosphärisch dichten, zwischen Grau- und Schwarztönen changierenden Bildern erzählt „Madame Lambert“ die merkwürdige Geschichte der amour fou einer reichen Industriellengattin zu Duhamel.

Es könnte aber auch sein, daß es die Geschichte eines raffinierten Mordkomplotts ist, mittels dessen die seltsame Madame Lambert (die in jedem Panel ein bisschen anders aussieht) sich den indolenten Ehemann nebst dem aufsässigen Liebhaber (dem dubiosen Burt Brown) vom Halse schafft. Nach dieser Lesart ist Duhamel das dumme Werkzeug und wird sicherlich auch bald entsorgt von Madames privater Killertruppe (drei Clockwork-Orange-artige Exzirkusartisten in schrägen Designerklamotten und mit unfertigen Gesichtern).

Andreas Gefe (Zeichner), Jerome Charyn (Autor): „Madame Lambert“.
Edition Moderne, Zürich 1997. 56 Seiten. 25 Euro

Der aus dem literarischen Noir tausendfach bekannte und immer wieder variierte Mythos von der eiskalten Femme fatale, die die Männer für ihre eigenen düsteren Zwecke zu funktionalisieren weiß, löst sich auf. Der junge Schweizer Zeichner Andreas Gefe unterstreicht das, indem er seine Panels zwischen penibelster Konkretisierung und flächiger Abstraktion, zwischen holzschnittartig kräftigen Linien und weichzeichnerhaft gedämpften Hintergründen schwanken lässt.

Charyns Szenario folgt konsequent seinem Konzept der „white spaces“: Es wird nur so viel gesagt wie nötig, um die Fantasie der Leser in Bewegung zu bringen. „Standardsituationen“ werden nur kurz aufgerufen, aber nicht erklärt, weil sowieso jeder weiß, was sie bedeuten. Wenn Brown dem Maler einen toten Clochard ins Atelier legt, wissen wir, dass dies eine Erpressung ist, und können auf die ausführliche Darstellung, was das für den Fortgang der Handlung bedeutet, verzichten.

Nach diesem Prinzip funktioniert der ganze Comic. Allerdings mit dem raffinierten Dreh, dass die Deutungsmöglichkeiten an den entscheidenden Stellen unklar werden. Das Weltbild des Noir ist hinreichend diffundiert, es gibt viele mögliche Interpretationen. Nichts spricht gegen die Lesart, dass Madame Lambert mit ihrem Antoine glücklich werden will und dafür brachial ein paar Hindernisse aus dem Weg zu räumen bereit ist. Weder Bild noch Text favorisieren eine eindeutige Auflösung dieser düsteren Halluzination über ein bekanntes Thema.

Der Mythomane Jerome Charyn lässt sich immer öfter von verschiedenen Illustratoren seine „white spaces“ füllen. Nach Boucq, de Loustal, Muñoz, Staton oder Frezzato jetzt also Andreas Gefe, dessen Stil ideal zu Charyns bizarrer Methode des Mythenbastelns passt. Dabei verändern sich die Mythen, ziehen mit der Veränderung der Welt gleich und verschieben die Ränder des Realen. Wie die Bilder Duhamels und die Panels von Gefe, die diese Bilder zeigen.

Diese Kritik erschien zuerst am 13.6.1997 in: taz

Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.