Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt

Seit über 25 Jahren haben Tocotronic die deutschsprachige Popkultur geprägt. Und das ohne musikalische oder politische Kompromisse. Statt den immer gleichen Sound zu bedienen, hat die Band sich immer wieder verwandelt, neue Konzepte und Ästhetik erprobt und politisch immer klar Position bezogen, gegen Deutschtümelei, Nationalismus oder die europäische Abschottungspolitik. Zum 25-jährigen Jubiläum der ersten Tocotronic-Scheibe in diesem Jahr hat der Mainzer Popkultur-Verlag Ventil zehn deutsche Comic-Künstler*innen und Illustrator*innen zusammengebracht, die der Hamburger-Schule-Legende huldigen und sich zeichnerisch mit Songs aus allen Schaffensperioden Tocotronics auseinandersetzen – „Sie wollen uns erzählen – Zehn Tocotronic-Songcomics“. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit Herausgeber Michael Büsselberg mit freundlicher Genehmigung des Ventil Verlags.

„Sie wollen uns erzählen“ ist der Comic-Sammelband eines Tocotronic-Fans für Fans: Was verbindet dich mit dieser Band?

Sehr viel! Eigentlich mein halbes Leben… Tocotronic entdeckte ich durch ein kleines Feature im Magazin Spex, dann das Debüt-Album „Digital ist besser“ und das erste Konzert 1995 im Rahmen der Kölner PopKomm in einem kleinen Laden mit drei anderen Newcomer-Bands.* Mit der Frühphase der Band verbinde ich viele laute Hör-Sessions bei Autofahrten ins Frankfurter Nachtleben… „Es gibt nur cool und uncool und wie man sich fühlt“. Und Urlaube am Strand: Der Tochter beim Sandburgen bauen zuschauen und dazu verzerrte Gitarrenschleifen im Ohr. Ein schöner Kontrast zum schönen Familienleben.

Auf jede Ankündigung neuer Releases habe ich mich sehr gefreut und mit jedem neuen Album bin ich immer lange mitgegangen. Während viele Musikfreunde irgendwann nach „K.O.O.K.“ abgesprungen sind, war ich gerade vom neue Wege gehenden „Weißen Album“ sehr angetan und auf die weiteren Entwicklungen gespannt, musikalische aber auch textliche.

Zu deiner Person: Was machst du, wenn du nicht gerade Bücher zusammenstellst?

Ich arbeite als Redakteur bei einem öffentlich-rechtlichen Sender und fahre viel mit dem Rennrad durch die Gegend – neben Musik eine weitere echte Leidenschaft. Ab und an organisiere ich gemeinsame Ausfahrten und lege in Bars und in kleinen Clubs als DJ auf.

Wie bist du auf die Idee zu diesem Projekt gekommen, gibt es Vorbilder für diese visuelle Umsetzung von Songs?

Während der vielen Frankreich-Aufenthalte, ob Städtetrips oder Urlaub, waren Abstecher in kleine Plattenläden und in das Kulturkaufhaus FNAC immer Pflicht. Ein Hotspot für Film-, Tonträger- und (Comic-)Buchfans. Super Auswahl! Um 2010 entdeckte ich dort „Chansons de Dutronc en bandes dessinèes“, von Comiczeichnern interpretierte Songs von Jacques Dutronc, einer meiner französischen Lieblingssänger. In Frankreich genießen Musik- und Comickultur einen hohen Stellenwert – und das verband nun beides.

Michael Büsselberg (Hrsg.): „Sie wollen uns erzählen. Zehn Tocotronic-Songcomics“.
Ventil Verlag, Mainz 2020. 128 Seiten. 25 Euro

Und da hatte es schon Klick gemacht und die Idee mit Tocotronic war sofort da. Aber nun, die Idee war gut, doch ich für die Umsetzung noch nicht bereit. Acht Jahre später, nach einem Fahrradunfall mit Job-Auszeit und einem verpassten Konzert, fand ich endlich Zeit und Muße, das Projekt neu anzugehen. Den passenden Verlag und ein paar Künstler hatte ich schon im Kopf.

Die Comics sind eine schöne Mischung aus eher illustrativ arbeitenden Zeichner*nnen und klassischen Comicstrips. Wie kam die Auswahl der Zeichner*nnen zustande?

Das Dutronc-Buch gefiel mir zwar von der Idee, doch die Zeichenstile waren mir etwas zu gleichförmig. Für Tocotronic wollte ich eine größere künstlerische Vielfalt: von Pop Art, Illustration, Graphic Novel bis zum klassischen Comicstil. Es sollte nicht nur ein Songbook für Tocotronic-Fans werden, sondern in gewisser Weise auch ein Kunstbuch. Einige der Künstler habe ich auf Vernissagen kennen und schätzen gelernt. Doch bei der Auswahl hat mich Jonas Engelmann vom Ventil Verlag unterstützt, denn in der klassischen Comic-Welt bin ich nicht so bewandert. Ich bin eher in der Graphic-Novel-, Illustration- und Pop-Art-Welt zu Hause.

Bei der Auswahl der Titel musste ich nur ein wenig steuern. Es sollten keine Song-Cluster um einige wenige Alben entstehen. Aus nahezu allen Phasen der Band ist ein Song dabei. Einige Künstler*innen hatten sofort „ihre“ Toco-Songs parat, einige wollten Vorschläge für bestimmte Alben zum Abklopfen auf geeignete Geschichten.

Bist du von dem Ergebnis überrascht? Von einzelnen Interpretationen der Songs?

Sehr! Es gab für die Zeichner nur wenige Vorgaben. Man hat ja gerade bei deutschen Texten oft eigene Bilderwelten zu den Songs im Kopf. Zwar kennt man die Zeichenstile der Künstler, doch nicht wie und mit welcher Intensität die Auseinandersetzung erfolgen würde. Nicht nur mit der Story, auch mit der Stimmung der Songs. Das Ergebnis fand ich bei jeder Interpretation überraschend. Gespannt bin ich auch auf die Reaktion von Leuten, die Tocotronic nicht kennen und das Buch über den Kunst-/Comiczugang entdecken.

Tocotronic sind dafür bekannt, sehr wählerisch zu sein, wenn es darum geht, ihren Namen zur Verfügung zu stellen. Wie hat die Band auf das Projekt reagiert?

Ich hatte mit einem Kurzkonzept per Mail über ihren Manager angefragt, schon zehn Minuten später hatte ich die Antwort – mit der Zusage der Band. Das war unglaublich. Ich wusste ja, dass sie sehr Comic-affin sind, aber die Botschaft, dieses Buch mit einem kleinen, auf Popkultur spezialisierten Verlag machen zu wollen, war sicher mit ausschlaggebend. Gefreut habe ich mich auch über die spontane Reaktion des Schlagzeugers Arne Zank, sich vorstellen zu können, einen kleinen Comic-Beitrag beizusteuern. Was er dann auch gemacht hat. Es ist sehr charmant geworden. Lasst euch überraschen!

*Lustige Anekdote dazu: Als die dritte Band auf die Bühne kam und das Trio mit brachial-melodischen Gitarrenriffen loslegte, wollte ich schon in voller Vorfreude in den ersten Toco-Song einstimmen, bis der Sänger auf Englisch loslegte, ich verwundert dreinschaute und mir dann jemand sagte, das seien nicht Tocotronic, sondern Ash. Okay! Noch recht unbekannt, aber dann doch schon Headliner des Abends. Als vierte Band kamen sie dann endlich bzw. erst mal Arne, der damals immer mit zwei Liedern begann und schon frenetisch mit Rufen gefeiert wurde. Seit diesem Konzert war ich stets live dabei, zu jedem der bis heute erschienenen elf Alben.

Seite aus „Sie wollen uns erzählen“ (Ventil Verlag)