Schurken, Helden und andere Außenseiter – „Freaks“

Bärtige Frauen, Elefantenmenschen und siamesische Zwillinge sind eine lautstarke Kampfansage an die wohlgenormte Mitte der Gesellschaft. Im 19. Jahrhundert wurden Außenseiter in bizarren Freak Shows dem Gelächter der Unauffälligen ausgeliefert. In „Freaks“ setzt Frank Schmolke zusammen mit Marc O. Seng dem Anderssein ein narratives Denkmal.

Es geht um die Familienmutter Wendy und den vernachlässigten Wohlstandszögling Elmar, die sich aus unterschiedlichen Gründen (wirtschaftlicher Druck bzw. emotionale Vernachlässigung) nicht mehr dem Kern der Gesellschaft zugehörig fühlen. Wendy leidet unter ihrem herausforderungslosen Job, hohen unbezahlten Rechnungen und dem alltäglichen Druck in einer völlig intakten Familie. Dass ihre Mutter früh verstorben ist, scheint sie bis in die Gegenwart zu verfolgen.

Frank Schmolke Zeichner und Autor), Marc O. Seng (Autor): „Freaks“.
Edition Moderne, Zürich 2020. 256 Seiten. 28 Euro

Elmar hat keinerlei wirtschaftliche Nöte und teilt die Arbeitsumgebung von Wendy nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Rebellion gegen die Ambitionen des erfolgsfixierten Vaters, der Elmars Mutter durch eine sexuell sehr aktive Gefährtin ausgetauscht hat und sich dieser nun stark verpflichtet fühlt. Teil seiner Realitätsflucht ist die Lektüre von Superheldencomics.

Der dritte Außenseiter im Bunde ist Marek, der seine Familie bei einem Autounfall verloren hat und seither auf der Straße von Abfällen und Almosen lebt. Er ist der Ausgangspunkt der Handlung, die an Fahrt aufnimmt, als Marek Wendy davon überzeugt, dass sie „eine von uns“ sei: „Ich kann es in deinen Augen sehen.“ Sie setzt ihre Psychopharmaka ab und verspürt alsbald Superkräfte. Elmar verfügt nach der Absetzung der Medikation über energetische Fähigkeiten, während Marek unverwundbar scheint. Die Medikamente hätten, so deuten es die Figuren, ihre tatsächlichen Superkräfte nur unterdrückt, und nun merken Wendy und Elmar: Sie sind gar keine Freaks, sondern Superhelden: Megagirl und Elektroman.

Die drei ziehen in den Kampf für das Gute und Gerechte, rächen die kleinen Boshaftigkeiten des Alltags, und als Zuschauer*in stellt man rasch fest, dass Gerechtigkeit schnell in Selbstgerechtigkeit umschlagen kann. Wie in dem deutschen Film „Muxmäuschenstill“ (2004) verlieren die Helden ihren Glanz, als sie sich von ihrem eigenen Leuchten berauschen lassen und ihre Aktionen jedes Maß verlieren. Während Wendy ihre Kräfte gegen ihren sorgenden Ehemann richtet und diesen vor den Augen des gemeinsamen Sohnes durch die Luft schleudert, tötet Elmar seinen (zugegebenermaßen unausstehlichen) Vater.

Der Comic „Freaks“ erscheint etwa parallel zum Start des gleichnamigen Spielfilms beim Streaminganbieter Netflix. Der Comic basiert aber nicht auf dem Film, sondern auf dem Drehbuch von Marc O. Seng, wohingegen Schmolke den fertigen Film nicht vor Abschluss des Comics zu Gesicht bekam. Daraus ergibt sich eine spannende Konstellation, denn Schmolkes Comic ist damit ebenso ein Original wie der Film. Viele Szenen werden anders arrangiert, hier oder dort gestrichen oder unterschiedlich interpretiert.

„Freaks“ ist keine klassische Superheldengeschichte, sondern bedient sich eher ganz im Fahrwasser der vielgelobten Joker-Verfilmung (2019) nur zentraler Motive des Genres. Ob die Superkräfte in der Fiktion real oder als Ausdruck pathologischer Geisteszustände oder als Metapher für die Leistungen ganz normaler Menschen zu verstehen sind (bzw. alles zugleich), lässt „Freaks“ offen. Wie in Kurt Busieks Batman-Comic „Kreatur der Nacht“ (2017-20) oder in Alejandro González Iñárritus Spielfilm „Birdman“ (2014) balanciert „Freaks“ auf einem schmalen Grat zwischen verschiedenen Deutungsangeboten.

Seite aus „Freaks“ (Edition Moderne)

Wir treffen in „Freaks“ auf verschiedene Arten von Superhelden: Neben dem Neptun-Schwimmbad oder dem griechischen Atlas, dessen Silhouette die Medikamentenpackungen ziert, werden auch klassische Comic-Superhelden zitiert. So liest Elmar, der vom Freak zum Superhelden und dann zum Superschurken mutiert, leidenschaftlich gern Comics. Dass seine rachelüsternen Allmachtsphantasien auf die Comic-Lektüre zurückzuführen sind… Fredric Wertham („Seduction of the Innocent“, 1954) hätte seine Freude an dieser Deutung gehabt. Dass Wendys Sohn Karl seine Batman-Passion aber ohne negative Konsequenzen auslebt, ist eher ein Fingerzeig, dass Film und Comic eher die familiären Rahmenbedingungen als zentralen Faktor für eine gelingende Sozialisation inszenieren. In den biographischen „Origin Storys“ der drei Protagonisten fallen die lückenhaften Familien auf: Abwesende Väter, Mütter, Partner oder Kinder machen die Menschen zu Freaks. Manchmal zu Superhelden wie Wendy, manchmal zu Superschurken wie Elmar.

Nachdem Schmolkes „Nachts im Paradies“ im vergangenen Jahr so euphorische Resonanz etwa durch Andreas Platthaus (Frankfurter Allgemeine Zeitung) oder Christoph Haas (Süddeutsche Zeitung) erfuhr, waren die Erwartungen an „Freaks“ entsprechend hoch. Hier wie dort hat Schmolke sich der Außenseiter in expressiven Schwarz-weiß-Zeichnungen angenommen. Beim Erzählen lässt er sich Zeit und gibt den Bildern mehr Raum als dem Text.

Comic und Film gelingt über weite Strecken ein aufregender und widerspruchsvoller Balanceakt zwischen den konkurrierenden Interpretationsversuchen, wobei der Film schlussendlich jäh vom Schwebebalken abstürzt und sich in Pathos und Wir-Gefühl suhlt. Diesen Fehler hatte schon die V-for-Vendetta-Verfilmung begangen, sehr zum Ärger Alan Moores. Im Falle von „Freaks“ ist diese Entgleisung schon spektakulär, sollte die Schlusssequenz nicht völlig ironisch überzeichnet sein.

Der Film endet damit, dass die Freaks in der wohligen Gemeinschaft anderer Freaks aufgehen, während eine Stimme aus dem Off die Stärke der Gruppe beschwört, als ob das wohlige Wir-Gefühl nicht Teil des Problems wäre. So stark der Film in der Kontrastierung der Deutungsansätze ist, löst Schmolke dies letztendlich doch geschickter. Ein paar Jahre später sitzt Karl auf einem pandemiebedingt gesperrten Spielplatz. Ohne Maske, bis eine Gruppe von Jugendlichen ihn zu schikanieren beginnt. Aber er wird es sich nicht gefallen lassen.

Hier spricht Frank Schmolke über seine Arbeit an „Freaks“.

Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.

Seite aus „Freaks“ (Edition Moderne)