Wie ist das so als Hund?

Wer seine Vorurteile abbauen will, sollte die Welt auch mal mit den Augen der anderen sehen. Der Kindercomic „Selma tauscht Sachen“ treibt dieses Prinzip auf die Spitze – und lässt die kleine Selma zum Hund werden.

Selma hat Angst vor Hunden – und zwar so richtig: Wenn ihr in der Stadt ein Hund begegnet, und sei er auch noch so klein, dann würde sie am liebsten die Straßenseite wechseln. Und wenn ein Hund ohne Leine läuft, dann klammert sie sich schon mal vor Angst an des Bein ihrer Mutter. Anne Becker zeichnet das mit buntem, lebendigem Strich: Vor Schreck fliegen schon mal die Schweißperlen, steigen dunkle Ärger-Wolken über Selma auf oder tanzen Herzchen über dem Hund, der Selma gerade abschleckt.

Die Mittel des Funny-Comics werden in dieser Geschichte mit großer Spielfreude eingesetzt. Und dabei wird selbst Selma klar: So kann es mit der Angst vor Hunden nicht weiter gehen. Und als Selmas Mutter vorschlägt, sie solle sich doch mal in die Hunde hineinversetzen, die so viel kleiner sind als Selma, da macht sie das – und zwar buchstäblich.

Martin Baltscheit (Autor), Anne Becker (Zeichnerin): „Selma tauscht Sachen“. Kibitz Verlag, Hamburg 2020. 88 Seiten. 15 Euro

Als ein Schoßhündchen vorbeikommt, tauschen die beiden kurzerhand die Rollen. Was dann passiert, ist ein großer Slapstick-Spaß. Selma rauft sich als Hündchen mit einer fiesen Katze, wird fast von einem Auto überfahren und lernt die große Welt der olfaktorischen Hundekommunikation kennen. Während die Eltern plötzlich mit einer Tochter konfrontiert sind, die nur noch bellt und an der Leine gehen will – weil die ja eigentlich der Hund ist.

Das Schöne daran, gerade für erwachsene Mitleser: Die Eltern spielen mit – vor allem der Vater, der seine vermeintliche Tochter sogar durch den Park an der Leine führt. Und das entwickelt eine ganz eigene Komik. Denn die Eltern haben ganz unterschiedliche Grenzen, wie weit dieses Spiel gehen kann.

Als Selma sich wie ein Hund zum Pullern in den Park hockt, ist die Grenze für die Mutter eindeutig überschritten, während der Vater selbst so im Spiel vertieft ist, dass er gar nicht merkt, dass so was dann doch nicht angemessen ist.

In diesem Buch wird – auf ganz nette Weise – sehr viel mit Pipi und Kaka hantiert. Weil es für Hunde ein wichtiges Kommunikationsmittel ist und weil diese Tabubrüche kleineren Kindern unheimlich viel Spaß machen. Und: „Selma tauscht Sachen“ funktioniert auf mehreren Ebenen, sodass auch Schulkinder ihren Spaß daran haben.

Das Einfühlen in andere zum Abbau der eigenen Ängste wird ungeheuer lustig auf die Spitze getrieben – und zugleich werden die Leser mit einer Familie konfrontiert, die nicht gerade einer typischen Bilderbuchfamilie entspricht: Selma kommt aus einer türkischen Familie, hin und wieder läuft auch mal eine Frau mit Kopftuch durchs Bild. All das wird so beiläufig erzählt, dass es leicht gelingt, sich in diese Familie einzufühlen, mit ihr Spaß zu haben – mit einer Familie also, die in hiesigen Bilderbüchern üblicherweise als Fremde dargestellt wird.

Damit sticht „Selma tauscht Sachen“ auf wunderbare Weise aus der Masse an Kinderbüchern heraus: Jeder Mensch ist anders, macht dieser Comic deutlich – und zwar nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit sehr viel Lese-Vergnügen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 06.01.2021 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Seite aus „Selma tauscht Sachen“ (Kibitz Verlag)