Vorwärts nimmer!

Ein schönes – wenn auch seltenes – Mittel des filmischen Erzählens besteht darin, Handlungsabläufe und Handlungszeit per Rücklaufprojektion umzukehren. Das eigentliche Ende bildet nun den Anfang et vice versa. Die Effekte des „reverse motion“ können komisch wirken oder die Medialität ihrer Hervorbringung reflektieren. Der Rücklauf kann aber auch eine narrative Funktion haben: Das Gelangen an einen (Zeit-)Punkt der Erzählung, an dem eine Entscheidung anders als zuvor getroffen, eine Handlung anders ausgeführt werden kann und der dann wieder vorwärts verlaufende Plot eine neue, ganz andere Entwicklung nehmen kann.

Im Comic bzw. Bilderbuch gibt es anders als im Film keine Projektion fortlaufender Bilder, die – egal ob vorwärts oder rückwärts laufend – den Eindruck eines bewegten Bildes hervorrufen. Comicpanels sind statische Bilder, die beim Betrachten einer Seite immer zugleich sowohl nacheinander als auch in ihrer Gesamtheit wahrnehmbar sind. Während es im Film also eine echte Erzählzeit gibt, die der „Filmlänge“ entspricht, ist die Frage der Zeitlichkeit des Comic und seiner Bilder kompliziert. Zeit ist dort eigentlich nur räumlich und über grafische Indizien wahrnehmbar: Veränderungen der räumlichen Position einer Figur in einer Abfolge von Einzelbildern verweisen auf Bewegung, und auch Gespräche zwischen Figuren implizieren Zeit, denn die Übertragung des Schalls benötigt einen gewissen Zeitraum, insbesondere die Lücken zwischen den Panels markieren sehr oft einen zeitlichen Sprung, der aber nicht wirklich existiert, sondern von den Leser*innen imaginiert werden muss und nicht zwangsläufig in jede beliebige Richtung lesbar ist.

Henning Wagenbreth: „Rückswärtsland“.
Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 2021. 40 Seiten. 25 Euro

Mit dem Zurückdrehen der Uhrzeiger in „Rückwärtsland“ hat sich der Grafiker und Illustrator Henning Wagenbreth auf ein spannendes Experiment eingelassen, das die Möglichkeiten und Grenzen des grafischen Erzählens, irgendwo zwischen Comic und Bilderbuch, ausmisst. In der Zeitung kann man nun lesen, was am nächsten Tag passiert; wer als blutiger Brei halbtot am Boden lag, springt plötzlich quicklebendig wieder auf; auferstanden von den Toten verjüngt (und verdummt) ein Mann immer mehr, bis er schließlich seiner Mutter in den Bauch kriecht. All das präsentiert Wagenbreth in einem eher konventionellen Layout – ganzseitige Illustrationen wechseln sich mit Bildsequenzen in einem mehr oder weniger einheitlichen Raster ab. Und wie in einer klassischen Bildergeschichte à la Wilhelm Busch findet sich die Erzählerstimme in gereimten Zweizeilern meist unterhalb der jeweils kommentierten Bilder. (Der Altmeister des grafischen Erzählens wird dabei natürlich auch zitiert. Wer sucht, der findet!)

Rückwärts verläuft dabei aber im Grunde nur die erzählte Zeit (das Erzählte), während das Erzählen in zeit-räumlicher Hinsicht seine gewohnte Richtung beibehält: Man schlägt das Buch auf und blättert sich von vorn nach hinten durch, scannt die Seiten von oben nach unten, liest die Bilderfolgen von links nach rechts. Anders als die Titel und die Texte im Bild sind die gereimten Erzählerkommentare „vorwärts“ geschrieben. Das ermöglicht auf den ersten Blick überhaupt erst Lesbarkeit und Verständlichkeit, trägt aber zugleich eine schöne Irritation mit ein. Während nämlich im Film die Umkehrung der Umkehrung die Aufhebung der Regression ermöglicht, ergäbe hier eine Umkehrung der Leserichtung nur noch mehr Sinnverlust und Desorientierung.

Nun hat der hier so irritierte Gegensatz von Vorwärts- und Rückwärtsschreiten eine nicht ganz unbedeutende gesellschaftspolitische Konnotation. Spätestens mit der pessimistischen Sichtweise des Philosophen Walter Benjamin auf den Fortschrittsbegriff wissen wir um dessen Ambivalenz und die dunkle Seite der uns allen in Fleisch und Blut übergegangenen Fortschrittserzählung: Naturzerstörung, Ausbeutung, Unterwerfung und Massenvernichtung. Insofern stellt sich die Frage, ob es denn nicht auch eine Ambivalenz der sonst beinahe allseits verworfenen Regression geben kann. Wenn in „Rückwärtsland“ der Faustschlag des Boxers die Wunde heilt, der Gewehrschuss die Toten zum Leben erweckt, Kanonenschüsse die zerstörten Gebäude einer Stadt wieder aufbauen, das Fleischermesser das filetierte Schwein wieder zusammenfügt und der Schornstein den Himmel wieder blau saugt, wenn also hier in einem Akt künstlerischer Subversion die Werkzeuge der Gewalt nicht zerstörerisch wirken, sondern in der Umdrehung ihrer eigenen Wirkung schöpferisch werden, stellt sich unweigerlich die Frage, ob es nicht manchmal auch sehr gute Gründe für eine zumindest teilweise bzw. zeitweise Umkehr in der Richtung unserer ewigen Bewegtheit geben könnte. Und selbst wenn, geht das überhaupt? Das ist allerdings nur eine von vielen klugen Fragen, die diese hochphilosophische und „nebenbei“ auch sehr komische Bilderzählung aufwirft.

Diese Kritik erschien zuerst am 05.07.2021 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.

Bild aus „Rückwärtsland“ (Peter Hammer Verlag)