Das Uneindeutige bestimmt „Markttag“, den ersten ins Deutsche übersetzten Comic des in den USA sehr erfolgreichen Zeichners James Sturm. Weder über die genaue Zeit noch den Ort der Handlung wird der Leser aufgeklärt: Irgendwo in einem osteuropäischen Schtetl, irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts bricht der Teppichknüpfer Mendelmann vor Morgengrauen in die Stadt auf, bietet dort seine Ware an und kehrt schließlich nach Hause zu seiner schwangeren Frau zurück. Die Farben des Comics bleiben düster, nur mit Mühe dringt die Helligkeit der Sonne in die Szenerie ein. Wenn schließlich doch hellere Farben den Comic bestimmen, geht es um eine gesellschaftliche Veränderung: das Hereinbrechen der Moderne in die gewachsenen Strukturen des Schtetl-Lebens.
Schon während der morgendlichen Routine Mendelmanns am Markttag drängt sich in den Alltag ein diffuses Gefühl der Verunsicherung. „In der Nacht vor dem Markttag schlafe ich nie gut. Sonst liegt das an der Aufregung, aber heute ist es Angst“, sinniert Mendelmann beim Verlassen des Schtetls. Er denkt an seine schwangere Frau und beginnt darüber nachzugrübeln, ob es zu verantworten sei, angesichts der Gewalttätigkeiten um ihn herum ein Kind in die Welt zu setzen. Lediglich angedeutet wird, welche Gewalt dem Teppichknüpfer Sorge macht: der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft. Ein Windstoß lässt Mendelmann aufschrecken: „Ich verdränge die finsteren Gedanken, indem ich mich auf etwas Realeres konzentriere.“
Ablenkung findet er, sobald er sich auf die Natur konzentriert, die er als Inspirationsquelle für die Kunst des Teppichknüpfens betrachtet. „Beim ersten Licht des neuen Tages hebt sich meine Stimmung. Ein rosa Streifen, gerahmt von grauer Erde und Wolken. Sogleich überlege ich, wie ich diesen Moment in einem Teppich verarbeiten kann. Rachel neckt mich immer damit, dass ich mehr in der Welt meiner Phantasie lebe als in der Wirklichkeit. Viele meiner Teppiche entspringen solchen Momenten.“ Diese Momente, in denen er die Schönheit der Natur erlebt, sind für ihn ein Beweis der Existenz Gottes.Auf dem Markt angekommen, wird er mit einer neuen Situation konfrontiert. Mendelmann befindet sich als werdender Vater nicht nur privat in einer Umbruchsituation, als Kunsthandwerker und Händler ist er auch von den gesellschaftlichen Veränderungen betroffen: Als er wie an jedem Markttag gemeinsam mit zwei Kollegen, dem Möbeltischler Rudikoff und dem Mesusa-Schnitzer Leff, den Laden des Kaufmanns Finkler aufsucht, ist dieser nicht mehr da. Barsch werden sie vom neuen Inhaber zurückgewiesen. Ihre Waren können sie hier nicht mehr zu den gewohnten Konditionen verkaufen. Mendelmann realisiert: „Wie schnell die Welt aus den Fugen geraten kann! Plötzlich ist alles anders. Und alles wegen einem Mann. Der Laden riecht jetzt nach Tabak. In dem einst für Leffs Mesusa-Behälter reservierten Schaukasten liegen schlampig gefertigte Pfeifen. In den Regalen billige Kiddusch-Becher und Menorot aus Zinn.“
Der neue Händler, der nicht mehr auf die Qualität der Waren, sondern nur noch auf den eigenen Profit achtet, steht symptomatisch für die neue Zeit. Die industrielle Revolution hat nun auch die osteuropäische Provinz erreicht und bringt das Leben der Handwerker durcheinander. Mendelmanns Wahrnehmung des Marktes verändert sich. Nicht mehr das Berauschende der vielfältigen Eindrücke, sondern das unter der Oberfläche versteckte Elend der jüdischen Bevölkerung rückt in den Blick: Armut, Gewalt, Betrug. Ein Wahrsager prophezeit Mendelmann, Gott werde sich ihm in seiner Arbeit offenbaren, doch der Teppichknüpfer zieht desillusioniert zum Warenhaus des Exporthändlers Suskin, der die Teppiche zu einem Spottpreis in sein Sortiment nimmt.
„Natürlich kann nur Gott die Zukunft sehen, doch die Angst raubt einem den Verstand. Und es ist schwer, in der Zukunft nicht einfach eine Fortsetzung der Gegenwart zu sehen“, sagt sich Mendelmann nach dem Besuch beim Wahrsager. Frustriert beschließt er, nicht nur seine Teppiche an Suskin zu verkaufen, sondern auch das Maultier und den Karren. Verbittert ruft er aus: „Morgen verkaufe ich den Webstuhl.“ Auf dem Heimweg betrinkt er sich mit Fremden und wird schließlich von besorgten Nachbarn unweit seines Hauses schlafend aufgefunden. Zumindest die Schutz bietenden Strukturen des Schtetls scheinen noch intakt. Allerdings zweifelt Mendelmann daran, ob dies auch in Zukunft so bleiben wird: „Ich bin Bürger zweier Staaten, zwischen denen plötzlich Krieg herrscht. Mir sollte klar sein, wohin ich gehöre. Ich bin aus dem einen Land verbannt worden und werde jetzt vom anderen aufgenommen.“ Wie Mendelmann sich entscheidet, ob für die festen Strukturen der Tradition oder die Anforderungen der Moderne, bleibt offen. Der Comic endet mit einem Panel, das einen Sonnenaufgang im menschenleeren Schtetl zeigt.Für seine Zeichnungen hat sich Sturm die Fotografien von Roman Vishniac und Alter Kacyzne, Chronisten des Lebens im Schtetl, zum Vorbild genommen. Ähnlich wie Joann Sfar arbeitet Sturm an einer Dokumentation jüdischer Kultur vor der Shoah in Comicform und verwebt dabei Alltagsleben mit den gesellschaftlichen Prozessen der Migration und der Verschärfung des Antisemitismus.
Die Entscheidung zwischen den beiden „Staaten“ Tradition und Moderne wird für die Juden in Osteuropa bald zu einer Frage des Überlebens: Bleibt man im scheinbar beschützenden Schtetl oder wagt man die Flucht ins Unbekannte? Das Schicksal der beiden von Sturm zitierten Fotografen verweist auf die Bedeutung dieser Entscheidung. Während Alter Kacyzne auf seiner Flucht 1941 auf dem jüdischen Friedhof von Ternopil in der Ukraine ermordet wurde, gelang Roman Vishniac die Flucht in die Vereinigten Staaten.
In den USA ist auch die Handlung eines thematisch ähnlich gelagerter Comics von Sturm angesiedelt: In „The Golem’s Mighty Swing“ hat ein jüdisches Baseballteam, „The Stars of David“, mit dem Alltagsantisemitismus in den ländlichen Gegenden der USA zu kämpfen. Einer der Spieler verkleidet sich als Golem, um die neugierige Landbevölkerung ins Stadion zu locken. Die antisemitischen Anfeindungen allerdings lassen nicht nach.
Sturms Comicerzählungen eingeschrieben ist die permanente Reflexion der eigenen Arbeit als Künstler. Mendelmann reflektiert immer wieder in inneren Monologen über die Problematik von Kunst und Wirklichkeit und über die Ansprüche an die eigene Arbeit. „Ein Monument des … was? Versagens? Der Illusion?“ fragt er mit Bezug auf seine kunstvoll geknüpften Teppiche. Und angesichts der gesellschaftlichen Realität des Antisemitismus gewinnen auch die letzten Worte Mendelmanns in „Markttag“ eine doppelte Bedeutung: „Ich werde mich auf eine Seite schlagen. Tun, was getan werden muss. Und darum beten, nicht zum Verräter zu werden.“
Dieser Text erschien zuerst in: Jungle World 25/2011
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.