Und was machst du so?

„Wie gefährlich Wissen ist und wie viel glücklicher derjenige Mensch, welcher seine Geburtsstadt für die Welt hält, als derjenige, der größer werden will, als es seine Natur erlaubt.“

Mit diesem Zitat, von Mary Shelley selbst, beginnt der Comic. Es sagt eine Menge über sie aus. Zum einen legt es nahe, dass Mary Shelley eine umtriebige Frau gewesen sein muss, die nach Erkenntnis strebte, darüber aber nicht glücklich geworden ist. Und: dass sie nicht glücklich wurde, weil ihr Streben nicht dem entsprach, was man zu ihren Lebzeiten, im 19. Jahrhundert, für die „Natur der Frau“ hielt.

Alessandro di Virgilio (Autor), Manuela Santoni (Zeichnerin): „Mary Shelley“.
Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Knesebeck, München 2021. 136 Seiten. 20 Euro

Schon Mary Shelleys Mutter, die im Wochenbett stirbt, führte ein für Frauen im 19. Jahrhundert eher unkonventionelles Leben. Sie war sehr selbständig und ihrer Zeit voraus: Aus zerrütteten Verhältnissen kommend, gründete sie eine Schule für junge Mädchen und setzte sich Ende des 18. Jahrhunderts für die Gleichberechtigung der Frau ein. Mary Shelley wird ein ebenso ungewöhnliches Leben führen. Das macht der Comic schon bei der Beschreibung ihrer Mädchenjahre deutlich: Sie schaukelt so wild, dass sie in die Luft zu fliegen droht, ganz ähnlich wie die Vögel, die neben ihr zwitschern. Und wenn ihr etwas nicht passt, büxt sie aus. Manuela Santoni zeichnet das mit einem wunderbar bewegten schwarzen Strich, der die Haare fliegen und die Mimik lebendig werden lässt. Die Natur ist so romantisch gezeichnet, wie es dem Zeitgeist Shelleys entsprach: Ein Hirsch äst an einem Bergsee und die Landschaft darum ist von einem Auf und Ab geprägt, das dem Leben Mary Shelleys entspricht. Und: diese Natur vermittelt eine Freiheit, die es in den gesellschaftlichen Kreisen der Zeit nicht gibt. Jedenfalls nicht für Frauen.

Der Comic ist vor allem an der Kindheit und Jugend von Mary Shelley interessiert. Die Hälfte des Comics ist bereits gelesen, wenn Mary als 16-jährige ihren zukünftigen Gatten Percy Shelley trifft. Bis dahin erfahren die Leser erstens: Mary Shelley wächst mit Liedern von Franz Schubert und Balladen von S.T. Coledridge auf. Ihr Vater verkehrt in liberalen Kreisen, veranstaltet kulturelle Salons – die ideale Grundlage also, um Schriftstellerin zu werden. Zweitens ist sie in ihrer Familie nicht glücklich, vor allem nicht mit der zweiten Frau ihres Vaters und wird nach Schottland zu einer befreundeten Familie geschickt. Und drittens knüpft sie in dieser Zeit Freundschaften, die sie noch lange begleiten werden. Mary wird ihren eigenen Weg finden und nach zwei Dritteln des Comics Percy Shelley heiraten – gegen den Willen des Vaters.

Doppelseite aus „Mary Shelley“ (Knesebeck)

Bis dahin ist die Comicbiografie von Mary Shelley eine ordentliche Coming-of-Age-Geschichte. Doch die Erzählung kippt bereits, als Percy Shelley auftaucht. Der wird als freiheitsliebender Intellektueller beschrieben, der sein Leben in die Hand nimmt, und als Hasardeur, der seine Frau mit den Kindern allein lässt und so sehr in die Verzweiflung treibt, dass diese Selbstmord begeht. Was Mary an ihm findet, macht der Comicautor Alessandro Di Virgilio nicht deutlich. Das gilt für alle ihre Motive, warum sie etwas tut oder lässt, was sie motiviert, wird nicht klar. Überhaupt löst der Comic nicht ein, was das Eingangs-Zitat von Mary Shelley verspricht: eine umtriebige Frau, die nach Erkenntnis sucht. Stattdessen wird Mary Shelley als eine Frau beschrieben, die ihr Leben nicht in die Hand nimmt, sondern sich treiben lässt und reagiert. Zum Beispiel, als sie mit Percy nach Luzern reist: “Wohin bringst du mich?“ „Wart’s ab. Ich werde dich zwei ganz besonderen Menschen vorstellen. (…) Bei dieser Gelegenheit hast Du die beiden kennengelernt. Lord George Gordon Byron und sein Leibarzt John Polidori. Zwei Menschen, die Dein Leben verändern werden.“

Mit diesen beiden werden Mary und Percy Shelley in einem Chalet am verregneten Genfer See einander Schauergeschichten vortragen. Mary Shelley wird dafür die Geschichte von Frankenstein skizzieren, ein Forscher, der einen künstlichen Menschen erschafft, der nicht mehr zu kontrollieren ist. Mary Shelley wird mit diesem Roman Weltruhm erlangen. Es ist der Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere. Für Alessandro Di Virgilio ist die Biografie mit der Entstehung des Romans „Frankenstein“ zu Ende. Damit zeigt er, dass er sich nicht für das literarische Schaffen von Mary Shelley interessiert – obwohl gerade jetzt, rund 200 Jahre später, die literarische Qualität ihrer Arbeiten gewürdigt wird. Ebenso wenig interessiert sich Di Virgilio, was Mary Shelley antreibt. Die Comicbiografie erzählt kaum Neues und fokussiert sich darauf, wie unkonventionell die Schriftstellerin gelebt hat. Das ist deutlich zu wenig für eine Frau, die eines der populärsten Werke des 19. Jahrhunderts geschrieben hat und ihrer Zeit weit voraus war.

Dieser Artikel erschien zuerst als Hörbeitrag am 23.04.2021 auf: SWR2 Lesenswert Magazin

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.