Von dem mexikanischen Comiczeichner Tony Sandoval hat hierzulande sicher kaum jemand etwas gehört. Die vorliegende Übersetzung von „Wasserschlangen“ wird dies ändern. Dieser Comic brachte Sandoval 2019, nach seiner Veröffentlichung in den USA, drei Nominierungen für die Branchen-Oscars, die Eisner Awards, ein. Neugierig? Zu Recht!
Das schüchterne Mädchen Mila begegnet beim Baden der abenteuerfreudigen Agnes, deren herausfordernde Art sie sofort in ihren Bann zieht. Agnes bringt es rasch auf den Punkt: „Was ist? Magst du mich?“ Oh ja, das tut sie. Die magische Welt der verspielten Agnes ist ein sonniger Gegenentwurf zur dunklen Tristesse ihres Elternhauses. Milas Vater ist Zahnarzt, Agnes aber hat schöne Zähne, und diese faszinieren Mila so sehr, dass sie Agnes küssen muss: „Boah… Das war surreal!“ Kaum ist die Sexualität erwacht, hält auch das Phantastische Einzug in das Leben der noch jungen Freundinnen, und zwar sehr intensiv: Direkt nach der ersten Intimität sucht eine schwarze Krake ihren Weg aus Agnes‘ Mund, und dies erschreckt Mila so sehr, dass sie durch die verregnete Nacht wieder nach Hause flieht. Erste Küsse eben.
Was als realistische Geschichte vom Erwachsenwerden beginnt, verschiebt sich nun mehr und mehr ins Phantastische. Mila erfährt mitten in ihrer alterstypischen Gefühls- und Identitätskrise, dass Agnes schon seit elf Jahren tot sei. Ihr kleiner Bruder Julien kann sie hören, sehen aber kann sie niemand außer eben Mila, und Agnes trifft es wiederum pointiert: „Ich glaube, du bist magisch.“Wir alle wissen, dass die Welt nach dem ersten Kuss völlig aus den Fugen gerät, dass Magie dort Einzug hält, wo vorher der langweilige Alltag herrschte. Sandovals „Wasserschlangen“ findet wunderschöne Wasserfarbenbilder, um den Leser in diese verwirrende Zeit zurückzuführen. Agnes und Mila suchen einen geheimen Ort im Wald auf, eine vulva-förmige Öffnung in den Untergrund, den „die Leute nicht mal beim Namen nennen“ möchten. Wir verstehen. Und je weiter die beiden sich von den gewohnten Pfaden entfernen, umso traum- und rauschhafter geraten ihre Erlebnisse. Und wo Erotik zu erwarten ist, lauert natürlich auch der Tod.
Die bleichen Figuren mit den überproportionierten Köpfen und zarten Gliedmaßen sind das sehr einprägsame Markenzeichen des mexikanischen Comiczeichners, ebenso wie das Motiv des Tintenfisches. Sein Werk erscheint seit einigen Jahren auf Französisch bei Paquet („Doomboy“ 2011, „Mille tempêtes“ 2015, „Les Echoes Invisibles“ 2017) und hat im englischsprachigen Raum eine Heimat bei Magnetic Press. Nachdem „Watersnakes“ 2019 in den USA erschien, wurde Tony Sandoval für drei Eisner Awards nominiert. Dass Cross Cult die Aquarellerzählungen dieses Künstlers nun auch dem heimischen Markt zugänglich macht, ist ein wundervolles Geschenk für Freunde des grafischen Erzählens.
Trotz der jugendlichen Helden richten Sandovals Comics sich nicht (nur) an Jugendliche, vielmehr thematisiert er in seinen All-Age-Comics typische Adoleszenzthemen von Identität, Sexualität und Individualität, die auch Erwachsene elektrisieren können. Wenn Agnes und Mila einander immer wieder fragen „Magst du mich?“ und „Wie sehe ich aus?“, zeigt sich darin deren fortwährende Ungewissheit, die auch Ausdruck darin findet, dass sie ab und an in Fuchs- und Hasenmasken herumlaufen: Wer bin ich eigentlich?
„Wasserschlangen“ ist so beeindruckend schön und so faszinierend verwirrend, dass man fest davon überzeugt ist, dieser Comic entfalte echte Magie.
Dieser Text erschien zuerst in der Multimania #83 (Mai/Juni 2021).
Gerrit Lungershausen, geboren 1979 als Gerrit Lembke, hat in Kiel Literatur- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2016 promoviert. Er hat Bücher über Walter Moers, Actionkino und den Deutschen Buchpreis herausgegeben. 2014 hat er zusammen mit anderen das e-Journal Closure gegründet und ist bis heute Mitherausgeber. Derzeit lebt er in Mainz und schreibt für Comicgate und die Comixene. An der TU Hamburg-Harburg unterrichtet er Comic-Forschung.