Als „neugierig und minderjährig“ wird Adèle (Adèle Exarchopoulos) einmal beschrieben. Die 15-jährige Schülerin mit den traurigen Augen und einem lachenden Mund ist in umfassender Bewegung und noch lange nicht festgelegt. Sie macht Erfahrungen, erkundet das weite Feld ihrer Gefühle und offenbart dabei eine ungewöhnliche Empfindsamkeit, aus der ebenso eine große Verletzlichkeit wie auch Stärke spricht. Weil Adèle noch so offen und unsicher ist, wovon ihre Blicke ein faszinierend beredtes Zeugnis geben, strömen die Begegnungen und Ereignisse ungefiltert auf sie ein. Schließlich ist viel los im Leben dieses leicht entflammbaren Mädchens, das aus einem Vorort von Lille stammt, gerne liest und Tagebuch schreibt und einmal Lehrerin werden möchte. Auch in der Liebe ist die schüchtern und zurückhaltend wirkende Adèle noch unerfahren: Die kurze Affäre mit einem Gleichaltrigen beendet sie enttäuscht, und von den nicht ganz ernst gemeinten frivolen Avancen einer Mitschülerin lässt sie sich täuschen. Adèles sexuelle Identität ist noch im Fluss.
Doch dann trifft sie auf offener Straße ein Blick, der vielleicht eine Ewigkeit dauert. Er gehört der etwas älteren, selbstbewussten Kunststudentin Emma (Léa Seydoux) mit den blauen Haaren. Den Auftakt zu dieser großen Liebesgeschichte gestaltet der französische Regisseur Abedellatif Kechiche in seinem preisgekrönten Film „Blau ist eine warme Farbe“ („La vie d’Adèle, chapitres 1 & 2“) als zärtliche, behutsame Annäherung in gedehnten Augenblicken. Im unglaublich ausdrucksstarken Spiel der Blicke spiegeln sich dabei auf sehr natürliche Weise Neugier und Erwartung, Leidenschaft und Begehren. In Naheinstellungen und dynamischen Kamerabewegungen intensiviert Kechiche die darauf folgende Liebesbeziehung der jungen Frauen, die sich bald in hungrigem, lustvollem Sex Bahn bricht, der wiederum eine starke Intimität und ekstatische Entgrenzung vermittelt.
Abdellatif Kechiche spiegelt diese Geschichte in zahlreichen Gesprächen über Literatur, was leicht aufgesetzt wirkt. Das beginnt mit der Treuherzigkeit der Liebenden in Marivaux‘ „La vie de Marianne“, streift das Unausweichliche der Tragödie in der „Antigone“, berührt Sartres Freiheitsbegriff und führt schließlich zum „natürlichen Laster“ bei Ponge. Einfacher und direkter, aber weniger kunstvoll formuliert ein älterer Homosexueller gegenüber Adèle: „Lebe dein Leben!“ Sie ist die emotional Abhängigere, sozial Schwächere in der Beziehung, aber Adèle – in manchem eine Verwandte der von der jungen Sandrine Bonnaire gespielten Suzanne in Maurice Pialats „À nos amour“ – ist auch stofflicher, konkreter und körperlicher als Emma. Ihre Herkunft aus einem sogenannten bildungsfernen Milieu macht sie in der Künstlerclique ihrer Freundin zu einer unausgesprochenen Außenseiterin. Ihre stille Aufopferungsbereitschaft und ihre zunehmend schmerzlichere Isolation erinnern dabei an die Hauptfigur von Claude Gorettas Film „Die Spitzenklöpplerin“ („La dentellière“). „Beide Protagonistinnen sind Gefangene ihrer sozialen Herkunft“, sagt Abdellatif Kechiche über seine Heldinnen. Trotzdem entlässt er vor allem Adèle nicht ohne Mut und Hoffnung aus den ersten beiden Kapiteln dieser Geschichte.
Diese Kritik erschien zuerst auf: filmgazettte.de
Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Blau ist eine warme Farbe“.
Blau ist eine warme Farbe
(La vie d’Adèle)
Frankreich 2013
Regie: Abdellatif Kechiche – Drehbuch: Julie Maroh, Abdellatif Kechiche, Ghalia Lacroix – Produktion: Brahim Chioua, Laurence Clerc, François Guerrar, Abdellatif Kechiche, Vincent Maraval, Olivier Théry-Lapiney – Kamera: Sofian El Fani – Schnitt: Camille Toubkis, Albertine Lastera, Jean-Marie Lengelle, Ghalya Lacroix – Verleih: Alamode Film – FSK: ab 16 Jahren – Besetzung: Adèle Exarchopoulos, Léa Seydoux, Jeremie Laheurte, Catherine Salée, Aurélien Recoing, Sandor Funtek, Karim Saidi, Baya Rehaz, Aurelie Lemanceau – 179 min. – Kinostart (D): 19.12.2013
Wolfgang Nierlin, geboren 1965. Studium der Germanistik, Philosophie und Psychologie in Heidelberg. Gedichtveröffentlichungen in den Zeitschriften metamorphosen und Van Goghs Ohr. Schreibt Film- und Literaturbesprechungen für Zeitungen (Rhein-Neckar-Zeitung, Mannheimer Morgen u. a.) sowie Fachzeitschriften (Filmbulletin, Filmgazette u. a.). Langjährige Mitarbeit im Programmrat des Heidelberger kommunalen Karlstorkinos.