Stets wiederkehrende Themen im Werk des spanischen Comicautors Paco Roca sind das Erinnern und viel mehr noch dessen negatorisches Pendant: das Vergessen. In seiner 2013 auf deutsch erschienen Graphic Novel „Kopf in den Wolken“ erkennt ein an schwerer Demenz erkrankter älterer Mann, dass ihm mit dem zunehmenden Verlust seiner Erinnerung nichts anderes übrig bleibt, als sich ganz ins Hier und Jetzt hineinzuwerfen und sich so gegen die schleichende Auflösung seiner personalen Identität aufzulehnen. Ein Comicroman, vorwiegend in braunen und orangenen Ockertönen gehalten, als existenzialistischer Kommentar zu den unangenehmen, meist kollektiv verdrängten Begleiterscheinungen des Alterungsprozesses. In „Die Heimatlosen“ (2015) widmete sich Roca den kaum erinnerten Helden des Zweiten Weltkrieges, nämlich den nach Frankreich exilierten ehemaligen Kämpfern des Spanischen Bürgerkrieges, die sich der Résistance anschlossen und 1944 in vorderster Front an der Befreiung der französischen Hauptstadt beteiligt waren. Ihre Hoffnung, nach Ende des Nationalsozialismus mithilfe der Alliierten auch das reaktionäre franquistische Regime zu stürzen, erfüllte sich freilich nicht. Man hatte sie schlicht vergessen.
„Rückkehr nach Eden“ setzt zeitlich an genau diesem Punkt, dem ersten Jahrzehnt nach Ende des Spanischen Bürgerkrieges, ein. Dreh- und Angelpunkt des Buches ist eine Fotografie, welche die Mutter des Autors als junge Frau zusammen mit weiteren Familienmitgliedern zeigt und vermutlich im Sommer des Jahres 1946 entstanden ist. Zeit ihres Lebens besaß dieses Foto eine besondere Bedeutung für die Frau, der zwischenzeitliche Verlust desselben erschien ihr als absolute Katastrophe. Angestoßen durch die Frage, warum ihr diese Fotografie so viel bedeutete, rekonstruiert Paco Roca den Kontext deren Entstehung und entwirft auf diese Weise ein einfühlendes Portrait einer im Zerfall begriffenen Kernfamilie vor dem Hintergrund einer von Armut und kollektiver Trauer, aber auch von Hoffnung und Überlebenswillen gekennzeichneten Nachkriegsgesellschaft.Im Gegensatz zu den bisherigen Werken Rocas handelt es sich bei „Rückkehr nach Eden“ weniger um eine Erzählung, dazu fehlt hier schlicht die Ereignishaftigkeit, zumindest in einem streng erzähltheoretischen Sinne. Viel zu sehr fügen sich die Personen in das ihnen auferlegte Schicksal eines Lebens in Entbehrung und Diktatur, sie suchen und finden ihren Platz in der Gesellschaft des franquistischen Nachkriegsspaniens und richten sich dort in einem privatistischem Biedermeier ein. Statt Narration wählt der Comicautor vielmehr einen eher deskriptiven Darstellungsstil, mit dem Historiographie im Sinne einer „Mikrogeschichte“ vom Leben „außergewöhnlich gewöhnlicher Menschen“ (Carlo Ginzburg) geschrieben wird.
Konkret geht es dabei vor allem um die Kindheit und Jugend der Mutter Paco Rocas, Antonia, die wiederum ein sehr inniges Verhältnis zu ihrer Mutter Carmen hat. Diese erweist sich als sehr gläubige Katholikin, die die Härten des irdischen Lebens in der Gewissheit auf ein jenseitiges Seelenheil geradezu stoisch erträgt. Der Vater Vicente ist ein egoistischer und gewalttätiger Taugenichts, der zwar einst auf Seiten der linksgerichteten Republikaner gegen Franco kämpfte, über dessen dahingehenden Motive man allerdings im Unklaren bleibt. Als Helden, selbst als einen tragischen, weil (kriegs-)traumatisierten, mag man ihn ganz sicher nicht bezeichnen. Während manche ihrer Geschwister der rigiden moralischen Enge, die sowohl die in sukzessiver Auflösung befindliche Familie als auch die spanische Nachkriegsgesellschaft als Ganze kennzeichnet, zu entfliehen versuchen, arrangiert sich Antonia dagegen ganz und gar mit ihrem Schicksal, was sie umso mehr mit ihrer Mutter zusammenschweißt.Wenn oben von fehlender Ereignishaftigkeit die Rede war, so lässt sich das allenfalls von der diegetischen Seite des Comics sagen. Denn in ästhetischer Hinsicht ist er ein Ereignis durch und durch. Paco Roca, stilistisch ein Vertreter der (Neo-)Ligne Claire mit Vorliebe für Sepiatöne, nutzt das ganze Repertoire der Bildsprache des Comic, um einerseits sehr feinfühlig die Gesellschaft des frühen franquistischen Spaniens zu porträtieren (dabei an Mario Camus‘ großartigen Film „Der Bienenkorb“ erinnernd). Andererseits geht es um universelle Themen wie Selbstbestimmung und Schicksal, Leben und Tod, und insbesondere um die Frage, an was und wen auf welche Weise erinnert werden wird. Das Thema des Erinnerns (und Vergessens) wird sehr raffiniert z. B. über intratextuelle Verweise oder dem Spiel mit comicspezifischen Möglichkeiten des Auf-, Ein- und Ausschließens in bzw. aus dem Bildraum verhandelt (siehe Abbildungen). Gerade vor dem Hintergrund der stark umkämpften Erinnerungskultur im heutigen Spanien haben solche ästhetischen „Spielereien“ einen durchaus ernsten, politischen Anspruch.
Diese Kritik erschien zuerst am 14.11.2021 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]
Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.