Das Internet ist grenzenlos – und es bestimmt das Leben – das wird immer wieder in den Comics von Jillian Tamaki klar. In der Comic-Erzählung „Sexcoven“ etwa gibt es einen gleichnamigen Song, der per Download aus dem Internet eine ganze Generation von Jugendlichen so sehr in den Bann zieht, dass sie obsessive Spiele damit entwickeln. In einer andern Geschichte entsteht plötzlich ein Parallel-Facebook, in dem die eigene Identität nicht mehr nur von ihrer besten Seite präsentiert wird, sondern ein Eigenleben führt. Jenny hat so eine Parallelidentität – sie wird ihr ganzes Leben danach ausrichten, möglichst in Echtzeit zu verfolgen, was diese Parallel-Jenny so treibt – wie also ihr eigenes Leben auch hätte sein können.
„Es wird so unglaublich wichtig, mit anderen im Internet verbunden zu sein, für manche ist es wichtiger, als ihr richtiges Leben. Das gilt auch für einen Teil der Comic-Community. Es gibt eine Fan-Szene, die spielen die Comics in der Realität nach oder zeichnen eigene Geschichten mit ihren Comicfiguren. Der Autor wird dabei immer unwichtiger. Du entwickelst etwas, setzt das in die Welt und es wird etwas völlig Eigenes. Das ist schon ein bisschen beängstigend.“
Anders als die Coming-of-Age-Geschichte „Ein Sommer am See“ sind die Erzählungen in dem Buch „Grenzenlos“ eher kühl und mit analytischer Distanz gezeichnet. Hier geht es nicht um überbordende Emotionen, sondern um Muster, nach denen Leben heute funktioniert. Das gilt auch für Geschichten, die so ganz im Hier und Jetzt angesiedelt scheinen, wie die Erzählung „Bettwanzen“:„Wer jemals Bettwanzen hatte weiß, dass die einen wahnsinnig machen. Die tun weh, die kommen immer wieder, du kannst die nicht totschlagen, du siehst die nicht mal, weil die immer nachts kommen. Du wirst paranoid, weil du nicht mehr sicher bist: Dein Haus ist nicht sicher, dein Bett ist nicht sicher – es ist total gruselig.“
Jillian Tamaki erzählt in der Geschichte aber nicht nur, wie ein Paar von Bettwanzen malträtiert wird. Sondern auch davon, wie die Frau mit einem ihrer Schüler fremdgeht: „Ich glaube, wenn man Geheimnisse in einer Ehe hat – oder in irgendeiner andern Beziehung, dann ist das ähnlich wie mit den Bettwanzen: Man wird ganz besessen davon, wird paranoid, ängstlich. Und das geht auch nicht einfach so weg.“
Die Geschichte mit den Bettwanzen hat Jillian Tamaki so effizient und gerade gezeichnet, dass kein Strich zu viel ist. Das Parallel-Facebook ist dagegen in eine üppig wuchernde Pflanzenpracht eingebettet – als wollte sie zeigen, dass auch die Wirklichkeit mitunter seltsame Blüten treibt. Das ist so, weil Tamaki ganz bewusst nach einem Stil sucht, der der Geschichte angemessen ist. Aber auch, weil die Comics über mehrere Jahre entstanden sind. Die Themen, die sie verhandelt, sind aber immer ähnlich: Sie lässt verschiedene Menschen neue Identitäten ausprobieren, oft im Internet, manchmal auch in der Realität. Es sind die Kippmomente, die Jillian Tamaki dabei interessieren – wenn das Leben aus den Fugen gerät, unkontrollierbar wird – und sich dann doch wieder fängt. Das klingt nicht nach der großen Freiheit. Warum aber heißt der Band trotzdem „Grenzenlos“?
„Weil wir uns manchmal der Grenzen gar nicht bewusst sind, mit denen wir leben. Das fühlt sich frei an – aber dann stößt man doch an eine Grenze, versucht die zu verstehen und zu überschreiten oder auch die zu zerschlagen.“
Das Internet spielt in den Geschichten eine besondere Rolle – schließlich ist es so unendlich groß und gibt einem die Möglichkeit, sich selbst immer wieder neu zu erfinden. Am Ende aber sind wir doch auf uns selbst zurückgeworfen. Wie Menschen damit umgehen, zeigt Jillian Tamaki in ihrer Erzählsammlung „Grenzenlos“ – und zeichnet damit ein feinsinniges Porträt vom Leben im Internetzeitalter.
Dieser Text erschien zuerst auf: Deutschlandfunk.
Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.