Art Spiegelman: „Amerika verwandelt sich gerade in zwei Länder“

Der preisgekrönte US-Autor hat mit seiner Holocaust-Aufarbeitung „Maus“ Comic-Geschichte geschrieben. Ein Gespräch über Antisemitismus, Kulturkrieg und Traumata.

Ein bisschen früh sei es für seine Verhältnisse, sagt Art Spiegelman. Er sei noch dabei, sein Gehirn in den Tagesmodus zu versetzen. Als seine Kinder klein waren, habe er vergeblich versucht, eine Krippe zu finden, die erst um 15 Uhr aufsperrt, scherzt er. In Manhattan ist es kurz nach halb elf vormittags, und es dauert keine Minute, bis Spiegelmans Gehirn auf Hochtouren läuft. Mit einem tief in die Stirn gezogenen Schlabberhut sitzt er auf einer schwarz-weiß geblümten Couch, an der Wand dahinter hängt gerahmte Comic-Kunst neben einem überquellenden Bücherregal. Die Tschick, die ihn und sein Comic-Alter-Ego jahrzehntelang in eine Rauchwolke hüllten, hat er mit einer E-Zigarette getauscht. Das ermöglicht Kettenrauchen auf einem ganz neuen Niveau.

Nächste Woche wird der wohl bekannteste lebende Comiczeichner der Welt in Wien aufschlagen. Zum allerersten Mal. Jede bisherige Einladung hatte er konsequent ausgeschlagen. „Ich habe Österreich immer als eines der großen Zentren des Antisemitismus wahrgenommen“, sagt Spiegelman im Zoom-Gespräch. „Doch jetzt, wo der Antisemitismus überall zunimmt, warum sollte ich noch Vorurteile gegenüber den Österreichern haben? Weil Ihr Land Avantgarde war?“

Vom Enfant terrible zum Star

Nun hat er sich also durchgerungen und wird heute bei einer Veranstaltung im Sigmund-Freud-Museum in Wien, wo gerade die Comic-Ausstellung „Gewalt erzählen“ ein paar seiner Werke zeigt, zu Gast sein. Er wollte ohnehin schon immer die Bruegels im Kunsthistorischen Museum sehen. Vorsichtshalber habe er aber nur einen Kurzaufenthalt geplant. „Für den Fall, dass mich der Ort nervös macht.“

Wenn Art Spiegelman spricht, blitzt immer wieder der Schalk in seinen Augen hervor, das können auch die dicken Brillengläser nicht verhehlen. Und so sehr er sich auch als der New Yorker Neurotiker ausgibt, der er bestimmt auch ist, meint er doch, was er sagt. Seine wohltemperierten Anflüge von Sarkasmus scheinen sogar seine Ernsthaftigkeit zu unterstreichen.

Spiegelman, der soeben seinen 76. Geburtstag feierte, ist für viele nichts weniger als eine Legende. Er war eines der Enfants terribles der renitenten Underground-Comix-Bewegung der 1970er-Jahre. Das Magazin „RAW“, das er mit seiner Frau und späteren Art-Direktorin von „The New Yorker“, Françoise Mouly, herausgab, war Sprungbrett für nicht wenige Independentgrößen (wie zum Beispiel Chris Ware) und etablierte eine neue Bildsprache abseits der glattgebügelten Superhelden-Comics. Hier erschienen auch erstmals die Kapitel seines Lebenswerks „Maus – Die Geschichte eines Überlebenden“. Darin rollt Spiegelman die Geschichte seiner Eltern auf, polnische Juden, die zuerst das Ghetto, dann Auschwitz überlebten. In einer zweiten Erzählebene reflektiert „Maus“ die schwierige Beziehung zu Spiegelmans Vater Vladek in der Gegenwart, Schuldgefühle und die Schmerzen des ewigen Traumas.

Sobald „Maus“ 1986 in Buchform erschienen war, schlug es ein wie ein Meteorit, nicht nur in der Comiclandschaft. Stimmen, die sich darüber empörten, dass sich der Holocaust nicht mit vermeintlich rein humoristischen Comics vertrage, wichen bald enthusiastischen Kritiken über die kongeniale Verstrickung einer Familien- mit der Weltgeschichte. Der Clou, dass Spiegelman die Juden mit Mäuse- und die Nazis mit Katzenköpfen beziehungsweise -masken zeichnete, war ein Tabubruch. „‚Maus‘ war nicht primär auf Antisemitismus aufgebaut, sondern auf dem Konzept der Entmenschlichung des anderen“, sagt Spiegelman heute. „Es handelt davon, wie es ist, ausgesondert zu werden, sei es aus religiösen Gründen, aufgrund der Hautfarbe, der sexuellen Orientierung oder Herkunft.“ Mit dieser Universalität erklärt er sich auch den immensen Erfolg des millionenfach verkauften Comics, das als Meilenstein in der Geschichte des Mediums gilt.

1991 erschien der zweite Band von „Maus“, 1992 wurde es als erstes und einziges Comic überhaupt mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Der kauzige Underground-Underdog mutierte unverhofft zum Godfather der Graphic Novels. Deren oft autobiografischer, dokumentarischer Nimbus verhalf dem Medium nach und nach zum längst überfälligen Aufstieg in die Sphären ernstzunehmender Literatur und zur Plattform für gesellschaftlichen Diskurs.

Bizarre Vorwürfe

Vor ziemlich genau zwei Jahren holte „Maus“ ihren Schöpfer wieder ein, als das Buch von der Welle an Bücherverbannungen an US-amerikanischen Schulen erfasst wurde, losgetreten von Konservativen, die sich vor allem an Werken in den Curricula stießen, die sich mit Rassismus und LGBTQI-Themen auseinandersetzen. „Maus“ wurde „unnütze Verwendung von Obszönität und Nacktheit sowie die Darstellung von Gewalt und Suizid“ vorgeworfen. Bizarrerweise bezog sich die Kritik unter anderem auf ein kleines Bild, das Spiegelmans Mutter zeigt, als sie nackt in der Badewanne gefunden wurde, nachdem sie sich zwei Jahrzehnte nach dem Krieg das Leben genommen hatte.

Spiegelman fand sich schlagartig inmitten eines „Kulturkriegs“ wieder: „Amerika verwandelt sich gerade in zwei Länder mit zwei Gehirnhälften, die nicht miteinander reden“, diagnostiziert er den Zustand. Obwohl er die Debatte als ein „Aufblasen des Bedeutungslosen“ betrachtet, war für ihn als dezidierten Fundamentalisten der freien Rede klar: Er musste reagieren. In Interviews und Vorträgen, unter anderem im Auftrag des Pen-Klubs, tingelte er in den letzten Jahren durch die USA, sprach über Meinungsfreiheit, Zensur und die Notwendigkeit, sich dem Unangenehmen zu stellen. „Die Schulbehörden wollten einen netteren Holocaust“, vermutet Spiegelman andere Motive hinter den Verboten. „Man wollte auch nicht, dass sich Kinder möglicherweise damit auseinandersetzen müssen, dass ihr Urgroßvater beim Ku-Klux-Klan war und Menschen lynchte.“


Art Spiegelman reagiert auf CNN auf die Verbannung seines Buches durch eine Schulbehörde.

Schonungslos, unbequem und geradeaus, immer auf dem halsbrecherischen Grat zwischen Humor und Horror balancierend, das liegt quasi in Spiegelmans DNA. 1951 wanderten seine nach Schweden emigrierten Eltern in die USA aus, wo er sich als Kind schnell in Comics verlor, erst in Klassiker wie „Donald Duck“ und „Little Lulu“, „eine kleine Feministin der 50er-Jahre“. Dann entdeckte er Harvey Kurtzmans provokante und experimentierfreudige „MAD“-Hefte, die ihn nachhaltig prägten. Später stieß er auf die brachialen, künstlerisch innovativen Horror- und Pulp-Comics des EC-Verlags, die stets von der Zensur ins Visier genommen wurden. Der Grundstein war gelegt. Noch bevor er schreiben konnte, zeichnete er Comics.

Kafkas Einfluss

In den 1960er-Jahren tauchte Spiegelman ein in die New Yorker Underground-Comix-Szene, die vom Mainstream gern unter den Teppich gekehrte Themen wie Sex, Drogen, Polizeigewalt und Rassismus zerfleischte. Seine Stunde kam, als er 1972 drei Seiten in einem Heft namens „Funny Animals“ gestalten sollte. Eine Ehre, immerhin stammte die Coverzeichnung vom Underground-Großmeister Robert Crumb. Das war der erste Auftritt der Mäuse, Jahre bevor Spiegelman begann, mit seinem Vater über die lange verschwiegene Vergangenheit zu sprechen.

Pate für die ursprüngliche Idee stand Franz Kafka, wie Spiegelman verrät: „Ich dachte an die Erzählung ‚Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse‘. Juden wurden an keiner Stelle erwähnt. Aber als Kafka darüber schreibt, wie Josefine ihre tränenreichen, tragischen Lieder singt, um das Mausvolk zusammenzuhalten, wusste ich, dass es um Juden geht. Diese Metapher war die Grundlage, auf der ich etwas aufbauen konnte.“ Ganze dreizehn Jahre dauerte es, bis Spiegelman das letzte Kapitel von „Maus“ abschloss.

Nebenbei hatte er ein neues Idiom für die Aufarbeitung des Grauens gefunden. Für ihn gab es nie einen Zweifel, dass das Comicformat das stimmigste ist, um seine Geschichte zu erzählen. Sämtliche Angebote für Film- oder TV-Adaptionen und andere Kommerzialisierungsversuche wehrte der unbeugsame Zeichner strikt ab.

„Eine Eigenschaft von Comics, selbst von realistisch gezeichneten, ist die Tendenz zur Abstraktion“, sagt Spiegelman. „Wenn man den Gesichtsausdruck eines Charakters zeigen will, wird das kein leichtes Zittern in einem Mundwinkel sein, sondern ein Lächeln. In ‚Maus‘ ist diese Abstraktion extrem, da alle Gesichter gleich aussehen. Das lädt ein, den Gesichtsausdruck selbst auf die Figuren zu projizieren und sich in sie hineinzuversetzen.“

Kontroverse Comic-Kunst

Nicht nur aufgrund dieser direkten Verbindung, welche die kodifizierte Abstraktion von Comics herstellt, sei das Medium so gut geeignet, Traumata zu vermitteln. Sie seien außerdem fähig zu manifestieren, wie unsere Erinnerungen, unsere Gedanken hin und her springen, Abzweigungen und Umwege nehmen. Auch wenn man die Panels auf einer Seite nach der Reihe liest, sieht man immer auch das Ganze, kann vor- und zurückblicken. „Das bedeutet, dass sich ein zeitliches Ereignis in ein räumliches verwandelt.“

Die Kunst, sämtliche Register der Comics zu ziehen, hat Spiegelman auch nach „Maus“, das noch ganz in Schwarz-Weiß gehalten war, auf die Spitze getrieben. Zwischen 1991 und 2002 war er Teil der Redaktion des „New Yorker“, wo er eine Reihe kontroversieller Covers gestaltete. So zeigte sein Valentinstagscover von 1995, das kurz nach Unruhen zwischen Juden und Afroamerikanern in New York erschienen war, einen Rabbi, der eine schwarze Frau küsst.

Herausragend in jeder Hinsicht ist auch seine monumentale 9/11-Abrechnung „Im Schatten keiner Türme“, die zunächst in der deutschen „Zeit“ und erst 2004 in den USA erschienen ist. Als Anrainer des World Trade Center erlebte er die Katastrophe hautnah mit. In einem grandiosen Ritt durch verschiedenste Stilrichtungen dekliniert er die traumatischen Ereignisse samt folgendem Patriotismus und Kriegstreiberei durch. Mittendrin sein mittlerweile ikonisch gewordenes Maus-Alter-Ego, wie immer kettenrauchend und lästernd.

Für Spiegelman markiert der 7. Oktober, der Tag des Hamas-Massakers in Israel, einen neuerlichen Wendepunkt. Ihn beunruhigt vor allem die Vermengung von Juden und Zionisten und die daraus resultierende neue Spirale der Judeophobie. Er besteht darauf, dass „Maus“ nicht als Propagandainstrument vereinnahmt werden dürfe, auch nicht vom israelischen Militär, wie es schon geschehen sei. „Der Holocaust ist kein Rekrutierungswerkzeug“, stellt er klar.

Der Krieg im Nahen Osten ist für ihn auch ein Beispiel, wie sich Traumata über Generationen fortsetzen. Schließlich geht Israels Existenz auf den Horror des Zweiten Weltkriegs und die Judenvernichtung der Nationalsozialisten zurück. „Und jetzt sehe ich vielfach in Israel, wie dieses traumatische Erbe an die Menschen nebenan weitergegeben wird. Ich wünschte, ich hätte eine Lösung dafür.“ Obwohl, eine Idee hätte er schon gehabt, die allerdings eine Alternativwelt skizziert: „Wenn sich schon jemand in ein neues Land aufmachen musste, hätten es die Deutschen sein müssen. Nach dem Krieg haben sie jedes Recht auf einen eigenen Staat eingebüßt. Die Juden hätten Berlin und jedes weitere Territorium, das sie brauchten, bekommen sollen. Dann hätten sich die Deutschen mit den Palästinensern herumschlagen müssen. Das wäre meiner Meinung nach eine gerechtere Lösung gewesen.“

Trumps Horrorshow

Momentan macht ihm vor allem der Aufstieg der Rechten und Autokraten Angst, auch im eigenen Land. Er weigert sich, Donald Trump die Ehre auch nur einer Karikatur zu geben. „Ich glaube nicht, dass ich weitere vier Jahre dieser Horrorshow mitansehen könnte“, sagt er. Wird Trump wiedergewählt, müsse er ein Land weit genug weg finden, das nicht in naher Zukunft in den Faschismus abrutscht. Weil seine Frau Französin sei, würde sich Frankreich anbieten. „Es ist eine Ironie, dass meine Eltern alles riskiert haben, um nach Amerika zu kommen, und ich nun darüber nachdenke, nach Europa auszuwandern. Das ist schrecklich.“

Bis es so weit kommt, will sich Spiegelman wieder mehr seinem ureigensten Metier zuwenden. „Ich absolviere ein tägliches Training, um meine Zeichenmuskeln wieder aufzubauen“, sagt er. Nach fast zwei Jahren als Verfechter der Maus- und Meinungsfreiheit müsse er wieder lernen, Comics zu zeichnen. Er habe einige Ideen, die müssten aber noch reifen. Gewohnt selbstironisch fügt er hinzu: „Es kann dauern.“

Art Spiegelman: Maus • Aus dem Englischen von Christine Brinck und Josef Joffe • Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2023 • Hardcover • 300 Seiten im Schuber • 98,00 Euro

Dieses Interview erschien zuerst am 17.02.2023 in: Der Standard – Comicblog Pictotop.

Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.

Sämtliche Illustrationen aus Art Spiegelmans „Maus“ (Fischer)