Echte Heldinnen

Mädchen (und auch Jungen) reagieren heutzutage immer wieder etwas konsterniert, wenn man ihnen erklärt, dass in Deutschland noch vor sechzig Jahren nach damaliger Rechtslage keine Frau ohne Einwilligung ihres Ehemannes einer Erwerbstätigkeit nachgehen durfte. Oder dass in manchen deutschen Bundesländern bis Ende der 50er-Jahre ein sogenanntes „Lehrerinnenzölibat“ existierte, wonach keine verheiratete Frau als Lehrerin tätig sein konnte, ganz egal, ob mit oder ohne Zustimmung ihres Mannes. Oder dass es im deutschsprachigen schweizerischen Kanton Appenzell Frauen erst ab 1990 (!) erlaubt war, an politischen Wahlen teilzunehmen. Hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses und seiner rechtlichen Grundlagen liegt das 20. Jahrhundert tatsächlich in einem anderen Jahrtausend als das darauffolgende. Dass uns diese Verhältnisse nicht nur sehr weit weg, sondern eigentlich auch ganz unvorstellbar erscheinen, hat etwas mit den politischen Kämpfen um die rechtliche und soziale Gleichstellung von Frauen zu tun, die in der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten, aber auch schon viel früher (und natürlich auch danach) ausgetragen wurden.

Pénélope Bagieu: „Unerschrocken – Gesamtausgabe“.
Aus dem Französischen von Claudia Sandberg und Heike Drescher. Reprodukt, Berlin 2021. 312 Seiten. 39 Euro

Die französische Illustratorin und Comicautorin Pénélope Bagieu hat zwei Comicbände (2016/2017) herausgebracht, die in gezeichneten Geschichten mutige Frauen würdigen, die sich gesellschaftlichen Klischees und Vorurteilen hinsichtlich der Rolle der Frau widersetzten, öffentlich für ein selbstbestimmtes Leben eintraten und dieses auch im Privaten vor- bzw. auslebten. Dabei handelt es sich eher nicht um bekannte Ikonen der Geschlechteremanzipation der letzten hundert Jahre wie Emmeline Pankhurst, Simone de Beauvoir oder Alice Schwarzer. Vielmehr behandelt „Unerschrocken“ die Lebensläufte mal mehr und mal weniger bekannter Frauen und bringt diese in einen Zusammenhang mit dem Kampf um soziale Emanzipation. Dafür geht Bagieu auch zeitlich sehr weit zurück und überwindet z. T. große räumliche Distanzen, etwa im Porträt von Wu Zetian, die von 690 bis 705 als erste (und einzige) Frau den Kaisertitel trug. Oder in der Geschichte Lozens, die – entgegen jeder Konvention – den Kampf der Apachen gegen die Mexikaner im 19. Jahrhundert anführte. In zeitlicher wie räumlicher Hinsicht näher liegend, aber nicht weniger interessant, sind die Rekonstruktionen der Lebensläufe von Clémentine Delait und Tove Jansson: Während erstere an ihrem starken Bartwuchs erst leidet, später daraus ihr ganzes Selbstverständnis (und letztlich auch ihr Kapital) zieht und im hohen Alter ebenso berühmt wie vermögend ist, verliebt sich zweitere in eine Frau und wird eine erfolgreiche Illustratorin und Bilderbuchautorin, deren Comicserie „Die Mumins“ zu weltweiter Popularität gelangt.

Während der Berliner Comicverlag Reprodukt die beiden Bände gerade in einer Gesamtausgabe (wieder-)veröffentlicht hat, findet sich in der ARD-Mediathek eine Auswahl der von Bagieu grafisch erzählten Frauenportraits als Serie animierter Kurzfilme. In der deutschen Bearbeitung spricht Anke Engelke in der ihr unnachahmlichen Weise den lakonischen Erzählerinnenkommentar, die Gestaltung der bewegten Bilder orientiert sich am Stil der zweiseitigen Splash-Panels, mit denen die Comic-Erzählungen jeweils pointiert abgeschlossen werden. Ob im Comic oder in der Animation: Die Bildgeschichten zeugen von einem karikierenden Zeichenstil, der die individuellen Eigenheiten ihrer Protagonistinnen und deren Charakterzüge in symbolischer Weise treffend auszudrücken vermag. Dass die Zeichnerin zur Dekonstruktion von Geschlechterstereotypen immer wieder auf die Darstellung visueller Körperstereotype zurückgreift, zeugt nicht nur von einem großen Sinn für Ironie und Humor – der tatsächlich nicht zu kurz kommt –, sondern konfrontiert die Leser*innen mit ihren eigenen klischeehaften Vorstellungen zur Geschlechterdifferenz und regt damit an, diese zu reflektieren bzw. zu hinterfragen.

Bagieu umgeht dabei in „Unerschrocken“ den Fehler der ersten Generation feministischer Autorinnen, die in der Frau das bessere Andere des Mannes sehen wollten und damit unbewusst jene Grenzziehung zwischen Mann und Frau wiederholten, die ihnen das Patriarchat schon vorgegeben hatte. Vielmehr sind ihre Protagonistinnen nicht immer Heldinnen im klassischen Sinn, sie stehen also nicht immer auf der Seite der Guten und verhalten sich nicht zwangsläufig moralisch einwandfrei. Aber selbst die biografische Darstellung Wu Zetians, die als chinesische Kaiserin ihre Konkurrent*innen und möglicherweise auch eines ihrer eigenen Kinder beseitigen ließ, lässt eine Sympathie zu der Person erkennen, die für sich in Anspruch nahm, dieselben Fehler (und Grausamkeiten) begehen zu dürfen wie die Vertreter des anderen Geschlechts zu ihrer Zeit auch.

Diese Kritik erschien zuerst am 05.12.2021 auf: Taz-[ˈkɒmik_blɔg]

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Unerschrocken“.

Mario Zehe (*1978) ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Lehrer für Geschichte, Politik & Wirtschaft an einer Freinet-Schule bei Quedlinburg (Harz). Seit vielen Jahren liest er Comics aller Art, redet und schreibt gern darüber, u. a. im [ˈkɒmik_blɔg] der Taz und für den Freitag.

Seite aus Pénélope Bagieus „Unerschrocken“ (Reprodukt)