Die ersten 100 Tage unter Marine Le Pen

Der Comic „Die Präsidentin“ beschreibt, was von der Demokratie übrig bleibt, wenn sie den Rechten überlassen wird.

Ein Comic als Brandbrief? Ja, das funktioniert. In ihrer Graphic Novel „Die Präsidentin“ nutzen der Historiker Francois Durpaire und der Comiczeichner Farid Boudjellal die Realität als dystopische Folie und entwerfen ein Modell, das Frankreich und Europa blühen könnte, sollte Marine Le Pen 2017, ausgestattet mit dem höchsten parlamentarischen Amt qua regulärem Wahlerfolg, im Élysée-Palast regieren.

Und wie es einer guten Science-Fiction-Erzählung geziemt, ist das beängstigend, weil exakt analysierte politische Entwicklungen der Gegenwart nicht nur kontrafaktisch weitergedacht werden – es genügt schon die Vorstellung, wie die Rechten mit den realen Werkzeugen politischer Macht, die ihnen die Verfassung bietet, hantieren. Dafür orientiert sich Durpaire ganz einfach am Parteiprogramm des Front National und entwickelt einen Crash-Kurs „FN-Regierung in 100 Tagen“: EU-Austritt, digitale Überwachung, Beseitigung des Verfassungsgerichts, mediale Gleichschaltung durch Subventionsstopps und Diskreditierung von Journalisten, rassistische Arbeitsmarktpolitik, noch mehr Abschiebungen. Mit den altbekannten Folgen: Inflation, mehr Arbeitslosigkeit, Armut und enthemmte Aggression in der Bevölkerung. Wie autoritäre Polizeistaaten jener Provenienz entstehen, kann man bereits in Polen, Ungarn, Russland oder der Türkei verfolgen.

Auch dass die Graphic Novel beim Brexit richtig lag, ist weitaus mehr als zufällig geglückte Prophezeiung: Durpaire arbeitet heraus, dass Demokratien gegen sich selbst ausgehebelt werden können, und die daraus erwachsende rechte Herrschaft droht, sie ein für allemal, nicht bloß für vier Jahre, abzuschaffen.

Dieses alarmierende Urteil können weder die statischen Zeichnungen noch die arg zwanghafte Rahmenhandlung um eine Résistance-Kämpferin und deren Enkelkinder, die als generationenübergreifende Repräsentanten der gegenwärtigen Spannbreite der Linken stellvertretend den Front National über sich ergehen lassen müssen, nivellieren. Ja, selbst ein vorwortender Ulrich Wickert nimmt sich da als gebührend vor sich hinwickerndes Mahnmal aus.

Diese Kritik erschien zuerst in: KONKRET 12/2016

Hier gibt es eine weitere Kritik zu „Die Präsidentin“.

Sven Jachmann ist Comic.de- und Splitter-Redakteur und Herausgeber des Filmmagazins filmgazette.de. Beiträge u. a. in KONKRET, Tagesspiegel, ND, Taz, TITANIC, Jungle World, Das Viertel, Testcard sowie für zahlreiche Buch- und Comicpublikationen und DVD-Mediabooks.

François Durpaire (Autor), Farid Boudjellal (Zeichner): „Die Präsidentin“. Aus dem Französischen von Edmund Jacoby. Jacoby & Stuart, Berlin 2016. 160 Seiten. 19,95 Euro