„Andere Umstände“, die zweite Graphic Novel von Julia Zejn, ist eine nuancierte, mit Nachdruck und viel Gespür für die kleinen, zwischenmenschlichen Augenblicke erzählte Graphic Novel aus Leipzig über das Thema Schwangerschaftsabbruch und das Recht auf Selbstbestimmung. Es ist kein Info-Comic und auch kein Manifest, auch wenn die lange nachhallende Erzählung sicherlich das Zeug zu einem wichtigen Debattenbeitrag hat. Stattdessen ist Julia Zejns zweite Comicarbeit nach ihrem viel beachteten Debüt „Drei Wege“ eine „slow burn“-Charakterstudie, die zwei Jahre im Leben einer jungen Frau verfolgt – bis zu dem Tag einer schwierigen Entscheidung. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Avant-Verlags.
Für die Leser*innen, die mit „Andere Umstände“ zum ersten Mal auf dich und deine Bücher stoßen, könntest du uns ein wenig über dich verraten? Wie bist du zum Comiczeichnen gekommen? Wie lange begleitet dich das Medium schon und was bedeutet es für dich als Illustratorin und als Erzählerin?
Es ist wahrscheinlich die langweiligste Antwort, aber ich habe schon als Kind gerne und viel gezeichnet (und Geschichten gelesen). Es hat dann eine Weile gebraucht, bis ich zum Comic kam. Zuerst habe ich Kommunikationsdesign studiert und mich vor allem mit Animationsfilm beschäftigt. Ich habe aber nach und nach gemerkt, dass es mir zwar sehr viel Spaß macht, szenisch zu denken, ich jedoch keine Lust habe, stundenlang vor Animationsprogrammen zu sitzen. Ich hatte während des und nach dem Studium immer den Drang, eigene Geschichten zu erzählen und nicht nur Auftragsarbeiten für andere zu machen. Nach einem freien gescheiterten Kurzfilmprojekt habe ich mir gesagt, einen Comic könnte ich ganz allein durchziehen. Zu der Zeit habe ich mehrere Kurzcomics gezeichnet und an Comic-Workshops teilgenommen und mehr und mehr gemerkt, wie sehr ich es mag, über das Medium Comic zu erzählen. Während der Arbeit an „Drei Wege“ ist mir die Arbeitsweise und das Medium so ans Herz gewachsen, dass ich mir den Alltag ohne Comiczeichnen gar nicht mehr vorstellen kann.
Du sprachst gerade dein Debüt „Drei Wege“ an, eine Erzählung über drei Frauenschicksale, angesiedelt jeweils 50 Jahre auseinander: 1918, 1968 und 2018. Was hatte dich damals zu der Geschichte bewogen. Was hast du während der Recherche und während der Arbeit an „Drei Wege“ über das Comicerzählen gelernt?
Ich fand den Wendepunkt im Leben eines Menschen interessant, an dem sich entscheidet, was für ein Mensch man wird. Und dieser Wendepunkt ist abhängig davon, an welchem Ort, in welcher Schicht, aber auch in welcher Zeit man lebt. So kam mir die Idee, verschiedene Zeiten gegenüberzustellen und die Unterschiede und Parallelen herauszuarbeiten. Ich habe, was die Vorgehensweise für eine größeres Graphic Novel Projekt angeht, viel gelernt – so bin ich an „Andere Umstände“ viel strukturierter rangegangen und habe zuerst recherchiert, dann eine Drehbuchversion geschrieben, das Storyboard erstellt und anschließend ausgearbeitet. Außerdem habe ich gelernt, mehr auf mein eigenes Erzähltempo zu vertrauen und den Bildern und Dialogen die Zeit zu geben, die eine Szene braucht.
Nun erschien mit „Andere Umstände“ dein lang erwartetes zweites Buch, der eigentliche Grund für unser nettes Gespräch. Wie kam es zu dem Projekt? Wie lange trugst du dich schon mit der Idee zu der Erzählung rum?Ich hatte schon 2017, während der Ausarbeitungsphase von „Drei Wege“, mit dem Schreiben wieder begonnen. Ursprünglich sollten es auch mal drei Geschichten werden, die ineinanderfließen. Aber diese eine Geschichte hat mich dann am meisten gepackt. Da mir feministische Themen am Herzen liegen und Schwangerschaftsabbruch ein sehr wichtiges und immer noch aktuelles Thema ist, aber auch weil ich Lust hatte, die Geschichte der Beziehung von Anja und Olli zu erzählen.
Du wirst bei dem Buch sicherlich oft die Frage nach der autobiografischen Note gestellt bekommen. Bevor wir uns darüber unterhalten, würde ich gerne wissen, wie du als Autorin grundsätzlich arbeitest. Spielen du und dein Umfeld beim Entwickeln der Figuren eine Rolle? Oder entwirfst du komplett fiktionale Figuren, je nach Story, und reicherst dann ihr Innenleben mit deinen eigenen Erfahrungen an?
Es ist eine Mischung aus beidem. Die Hauptcharaktere sind frei erfunden. Dennoch ziehe ich immer Inspiration aus meiner unmittelbaren Umgebung und aus meinem eigenen Leben. Ich notiere mir Gespräche, die ich mitbekomme, lese Romane, schaue Serien usw. Um die Charaktere authentisch werden zu lassen, stelle ich mir viele Fragen. Zum Beispiel, wie sind die aufgewachsen? Wie sieht ihr Alltag aus? Wie sind ihre politischen Einstellungen? Sind sie introvertiert oder extrovertiert? Wer sind ihre Freunde? Ich schreibe ihnen auch meist einen kurzen Lebenslauf und mache einen Persönlichkeitstest für sie. Auf jeden Fall verbringe ich immer viel Zeit damit und weiß letztendlich immer mehr über die Charaktere, als dann in der Geschichte sichtbar wird. Was die Nebencharaktere angeht, suche ich mir dann auch manchmal Leute aus, die ich kenne und die mir dann als Vorbild dienen. Ich arbeite nicht autobiografisch, dennoch stecken auch persönliche Erfahrungen in meinen Geschichten und die Charaktere sind mir nicht völlig fremd.
Erzähl uns doch ein bisschen über Anja. Wo befindet sie sich emotional, wenn wir Leser*innen ihr begegnen und sie wiederum Olli begegnet und mit ihm zusammenkommt? Was war dir wichtig bei Anja? Und wie viel von dir selbst findet sich in deiner Protagonistin?
Anja ist am Anfang der Geschichte etwas orientierungslos. Man erfährt, dass sie gerade eine Beziehung hinter sich hat und in eine WG gezogen ist. Außerdem hat sie gerade ein Studium beendet und kann sich nicht wirklich entscheiden, wohin es sie beruflich führen soll. Zu diesem Zeitpunkt begegnet sie Olli, einem Hedonisten, der in den Tag hinein lebt, und verliebt sich. Bei Anja war mir wichtig, dass sie eher unauffällig und keine besonders laute Person ist. Damit kann ich mich gut identifizieren. Und eine weitere wichtige Sache war, dass sie sich nicht gut entscheiden kann und kein Mensch ist, der gut Nein sagen kann. Bis zu dem Punkt, an dem sie ungewollt schwanger wird.Am Ende deiner Erzählung wird Anja von Olli schwanger und sie wird sich zu einem Abbruch entscheiden. Du beschreibst keine extreme Situation – es gibt keine Not, keine medizinischen Gründe, keine materiellen Sorgen. Und trotzdem ist die Entscheidung völlig eindeutig und nachvollziehbar, einfach weil wir als Leser*innen so viel Zeit mit Anja verbracht haben…
Mir war es wichtig, genau das zu erzählen: dass Anja aus gesellschaftlicher Sicht vielleicht keinen triftigen Grund hat. Die Akzeptanz für Schwangerschaftsabbrüche sind bei Gewaltverbrechen und medizinischer Indikation sehr hoch, ansonsten aber weniger. Aber Anja steckt in keiner Notlage und möchte trotzdem nicht Mutter werden. Meine Intention ist, dass die Leser*innen das verstehen können und diese Entscheidung respektieren. Gerade aus dem Grund war es mir wichtig, dass man genug Zeit hat, die Charaktere und die Beziehung, die sie führen, kennenzulernen. Ich wollte keinen Informationscomic über Schwangerschaftsabbruch machen, sondern eine Beziehungsgeschichte mit dieser glaubhaften Entscheidung erzählen.
Anjas Geschichte ist exemplarisch, aber je nach Region ist der Zugang zum Schwangerschaftsabbruch für Frauen auch schwerer und emotional mühseliger. Könntest du uns ein wenig über den aktuellen Stand des Themas in Deutschland erzählen? Was besagt der berüchtigte §218 und wie wird er heute noch angewendet?
Kurz zusammengefasst besagt der §218, dass Schwangerschaftsabbruch eine Straftat ist, die unter bestimmten Voraussetzungen (Beratungspflicht, drei Tage Bedenkzeit) straffrei bleibt. Dadurch ist Schwangerschaftsabbruch keine selbstverständliche medizinische Leistung. Die Praxen dürfen selbst entscheiden, ob sie die Behandlung anbieten oder nicht. Gerade in ländlichen Gegenden ist die Versorgungslage deshalb sehr schlecht und Frauen müssen oft einen weiten Weg zurücklegen, um einen Schwangerschaftsabbruch durchführen zu lassen. Dazu kommt, dass das operative Verfahren im Medizinstudium nicht gelehrt wird. Es wird deshalb häufig noch das veraltete Verfahren der Ausschabung angewendet, das mehr Risiken mit sich bringt als eine Absaugung. Außerdem müssen die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch von der ungewollt Schwangeren selbst getragen werden.Das Thema Abtreibung scheint für mich ganz stark mit dem Thema Rechtsruck in Verbindung zu stehen, ob in Polen oder in republikanischen Bundesstaaten in den USA. Dort, wo rechtskonservative Politiker die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen umgestalten, wird Abtreibung immer wieder als populistisches Diskursmittel bemüht und als legislative Waffe gegen emanzipatorische Entwicklungen eingesetzt. Warum hat das Thema so eine Strahlkraft für die politische Rechte?
Zum Rechtspopulismus gehört meist das Bild der intakten Familie und einer klaren Rollenverteilung mit der Frau als Mutter. Es wird propagiert, dass dieses Bild von der heutigen Gesellschaft bedroht wird und der Mann seine Männlichkeit verliert. Eine Frau, die sich gegen die Mutterrolle wehrt und diese Entscheidung allein trifft, passt da nicht rein. Zudem spielen auch religiöse Ansichten eine Rolle, bei der Leben bereits nach der Befruchtung entsteht. Es ist eine schwierige Frage, was man dagegen machen kann, aber wahrscheinlich darf man nicht müde werden aufzuklären und dagegen zu protestieren.
Woran arbeitest du gerade? Bist du schon mitten in deinem nächsten Projekt?
Ich bin gerade in einer Schreibphase und schreibe zwei Geschichten parallel. Eine nur als Autorin, die jemand anderes bebildern wird, und eine Science-Fiction-Geschichte, die ich selbst zeichnen möchte. Aber ob es die nächste größere Graphic Novel wird, habe ich noch nicht entschieden.