Dieser Beitrag ist ein Repost vom 21.04.2018. Er ist Teil von Jonas Engelmanns druckfrisch erschienener Textsammlung „Dahinter. Dazwischen. Daneben. Von kulturellen Außenseitern und Sonderlingen“ (Ventil Verlag), zu deren Kauf wir dringend raten möchten. Hier stand Engelmann dem Deutschlandfunk zu seinem neuen Buch Rede und Antwort.
„Ein Mensch, der im Flow ist, geht voll in seiner Tätigkeit auf. Er vergisst, was um ihn herum geschieht. In diesem Zustand macht ihm eine Tätigkeit, zum Beispiel Arbeit, am meisten Spaß. Er lernt dann am schnellsten und ist am leistungsfähigsten.“ So beschreibt ein Unternehmensberater in dem Dokumentarfilm „Work Hard Play Hard“ (2011) die Erwartungen an die Arbeitsverhältnisse der Gegenwart.
Stets lern- und leistungsfähig zu sein bei gleichzeitigem Spaß an der Arbeit, im gläsernen Büro sitzend und gezwungen, den Chef zu duzen – das klingt nach einem Alptraum von Gaston Lagaffe. Aber seine Stelle als „Mädchen für alles in einer Comic-Redaktion“ wäre in der Arbeitsrealität des neuen Jahrtausends ohnehin als erstes wegrationalisiert worden. Man kann sich den einzigen „Comic-Helden ohne Beschäftigung“ in der gegenwärtigen Comiclandschaft daher nur schwerlich vorstellen. Zu anachronistisch wirkt sein Dasein als Chaos stiftender Bürobote. Während Gastons 40-jährigem Arbeitsleben – vom ersten Auftritt 1957 bis zum letzten Comic-Strip 1997 – reihte sich Bürotag an Bürotag, Gag an Gag und Chaos an Chaos, ein sich stets wiederholender Kreislauf des Immergleichen. Welch ein Glück! Zeigt es doch, dass André Franquin, der Schöpfer der Comicfigur Gaston, sich nicht vom Innovations- und Leistungswahn der neoliberalen Ideologie hat anstecken lassen. Stattdessen hat der Künstler mit der in einer Gesamtausgabe erhältlichen Comicreihe ein Denkmal der Verweigerung erschaffen, sodass man ihm selbst die Gags verzeiht, die nicht so recht zünden wollen.
Ob es von einer Comicreihe wie „Gaston“ eine kommentierte Werkausgabe im Schuber geben muss, darüber ließe sich diskutieren, doch zeigt sich gerade in dieser Monumentalität, in der Strip auf Strip ein einzelner Mensch allein durch seine Weigerung, sich den Strukturen anzupassen, ein ganzes Verlagshaus ins Chaos zu stürzen vermag, die Genialität von Franquins „Gaston“. Georg Seeßlen schwärmt in seinem der Ausgabe beigegebenen Text: „Was ist schlimmer als eine Welt mit einem Gaston? Eine Welt ohne einen Gaston. Genau das macht uns den kleinen Prokrastinator so vertraut, dass er nicht nur die Welt der Angepassten, der Technikgläubigen, der Vernünftigen, der Duckmäuser, der Erzieher und Aufpasser stört, sondern auch eine kleine poetische Gegenwelt um sich herum aufbaut.“
Noch gänzlich ohne poetische Gegenwelt stand Gaston bei seinem ersten Auftritt im belgisch-französischen Comicmagazin „Spirou“ am 28. Februar 1957 zunächst einfach nur in den Redaktionsräumen herum, bevor er in den folgenden Ausgaben, stets mit einer Zigarette im Mundwinkel und seinem zum Markenzeichen gewordenen Outfit aus Jeans, grünem Rollkragenpullover und ausgelatschten Schuhen, damit begann, die Räumlichkeiten seines neuen Arbeitgebers zu erkunden, bis er – in der Folge einer Umfrage unter den Lesern – zu einem festen Bestandteil des Heftes wurde und noch im gleichen Jahr einen eigenen Strip erhielt.Die Figur des Redaktionschefs Fantasio, bekannt aus der ebenfalls von André Franquin maßgeblich betreuten Comicreihe „Spirou und Fantasio“, ahnt Fürchterliches auf sich zukommen und warnt schon im Sommer 1957: „Da hat man unserem ›arbeitslosen Helden‹ endlich einen Job in der Druckerei verschafft, und dieser Wahnsinnige hat nichts Besseres zu tun, als mit dem Finger in die Druckmaschine zu geraten! Dieser Typ ist wirklich zu nichts zu gebrauchen. Zu absolut nichts!“ Tatsächlich ist Gaston im Sinne des Kapitalismus nicht zu gebrauchen, seine Beschäftigung erbringt keinen Mehrwert, und wenn doch, dann nicht zum Vorteil seiner Vorgesetzten. Seine Zeit im Büro nutzt er, um zu musizieren, sich um seine diversen Tiere zu kümmern und an seinen Erfindungen zu feilen: Ansaugautomaten für Zigarettenstummel, Entspannungsstühle, Hängematten aus Expandern, Duftspender oder Einbruchsicherungen. Seine in den Räumen des Verlags entstehenden Erfindungen sind durchaus erstgemeinte Beiträge zum Büroalltag, denen jedoch in ihrer Absurdität das Chaos bereits eingeschrieben ist – Gaston gerät hier zu einer Parodie des Innovationswahns. Heute dagegen finden sich Entspannungsstühle und Duftspender in jeder Werbeagentur. Christian Gasser schreibt: „Gastons (unbewusstes) Ziel ist die Poetisierung seines banalen Alltags. Kraft seiner Verweigerung und seiner Kreativität verwandelt sich seine graue Umgebung in ein poetisches Individual-Utopia.“ Diese Poetisierung des Alltags ist jedoch nur die eine Seite des Charakters Gaston, das Unterlaufen gesellschaftlicher Erwartungen und die Übertretung der Norm ist die andere.
Als Gaston 1957 auf der Bildfläche erscheint, in Jeans, mit Zigarette im Mundwinkel, Rock ’n’ Roll liebend, ständig im Konflikt mit der Staatsmacht in Gestalt der Figur des Wachtmeisters Knüsel, wird er von den jugendlichen Lesern automatisch mit deren Idolen der Rebellion assoziiert, etwa dem 1955 verstorbenen James Dean. Die Comicfigur war ein in jeglicher Hinsicht als Gegenentwurf zur Elterngeneration angelegter Charakter, der jedoch in den ersten zwanzig Jahren seiner Arbeit keine expliziten politischen Positionen bezog. Erst in den Siebzigern mischte sich Gaston in Debatten um Menschenrechtsverletzungen, Folter und den Tierschutz ein. Georg Seeßlen weist darauf hin, dass Gaston insbesondere in den 70er Jahren „ein Symbol des Widerstands gegen ökologische und ökonomische Arroganz, gegen Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen, gegen die Ideologie von Wachstum und Machbarkeit“ wurde. All dies ereignete sich jedoch weitab deutscher Jugendzimmer, denn nur in Frankreich behielt Gaston über die Jahre hinweg seinen anarchischen Humor, hierzulande wurden die Strips vom Kauka-Verlag lizenziert und erschienen in hanebüchenen Übersetzungen in den „Fix und Foxi“-Comics. Gaston hieß dort „Jo-Jo“, stotterte und war als reine Trottelfigur angelegt. Erst in den Achtzigern wurde im Carlsen Verlag eine an den französischen Originalen orientierte Neuübersetzung in Angriff genommen.
Die Ernsthaftigkeit, mit der Gaston jegliche Form von fremdbestimmter Arbeit von sich weist, ging in der ersten deutschen Fassung des Comics verloren. Georg Seeßlen vergleicht Gaston aufgrund von dessen Gesten der Verweigerung mit Herman Melvilles Bartleby. Allerdings weist – im Gegensatz zu Melvilles Figur – Gaston nicht jegliche Anweisung mit einem „I would prefer not to“ von sich, sondern etwa mit einer Rieseninsektenvernichtungsbombe für Großbüros oder seinem ohrenbetäubend lauten selbstkonstruierten „Gastophon“. Eine produktive und eine ansteckende Verweigerung: In Ruhe arbeiten kann im Büro dank Gaston niemand mehr. Verträge werden nicht unterzeichnet, das Büro wird regelmäßig verwüstet, gesprengt oder geflutet, zum Zoo, Proberaum oder zur Bowlingbahn umfunktioniert. Gaston ist rastlos in seinen Strategien, nicht zu arbeiten, und bleibt dabei Gefangener seines ganz persönlichen Wahns: Aus Angst, arbeiten zu müssen, erprobt er beständig Methoden, ihr zu entgehen, und findet ebenso wie seine Kollegen kaum einen Moment der Ruhe. Selbst die Arbeitsverweigerung wird anstrengend. Gaston gerät so immer tiefer in die Mühlen des Kapitalismus, auch wenn er alles tut, die Leser glauben zu machen, er sei davon weit entfernt. Ein düsteres Bild der Gesellschaft, verborgen hinter bunten Bildern, die zu produzieren dem Zeichner André Franquin oftmals vorgekommen sein muss wie Gastons Kampf mit Vorgesetzten und Vertretern der staatlichen Autorität.Franquin hat einmal mitgeteilt, er habe in Gaston vor allem sich selbst gesehen, und in der Tat gibt es viele Parallelen, von den Berichten über skurrile Erfindungen des Zeichners bis hin zu seinem eigenen Stress beim Arbeiten in der Redaktion des auch real existierenden Magazins „Spirou“. Terminstress und Chaos im Büro, der Druck, permanent etwas leisten zu müssen, all das findet seinen Spiegel im Comic, aber auch die Angst, von anderen begutachtet und bewertet zu werden, die eigene Produktivität nicht mehr im Griff zu haben. Franquin hatte Zeit seines Lebens mit Depressionen zu kämpfen, bis er im Dezember 1961 einen Zusammenbruch erlitt und erst 1963 mit der Arbeit am unterbrochenen „Spirou und Fantasio“-Band „QRN ruft Bretzelburg“ fortfahren konnte, 1968 gab er die Serie komplett ab.
Seine Figur „Gaston“ betreute er auch in diesen düsteren Phasen seines Lebens, und mit diesem Wissen im Hinterkopf lesen sich einige der Episoden deprimierender, als die vordergründigen Gags um Arbeitsmoral und Verweigerung vermuten lassen. Aus dem Jahr 1962 stammt ein Strip, in dem Fantasio Gaston zu motivieren versucht: „Die Arbeit ist doch mit das Schönste im Leben! Man muss nur positiv denken und an den Erfolg glauben! Du weißt doch, Gaston: Der Glaube versetzt Berge.“ Gaston dagegen sieht nur den Berg unbeantworteter Leserbriefe, dessen Last ihn schier zu erdrücken scheint.
Parallel zur Arbeit an „Gaston“ begann Franquin 1977 mit einer Comicreihe, die seiner depressiven Stimmung noch stärker Ausdruck verlieh: „Schwarze Gedanken“, geprägt von einem düsteren Humor, Ängsten und Zweifeln. Doch dieser Schwarz-Weiß-Comic richtete sich ohnehin an ein erwachsenes Lesepublikum. „Gaston“ dagegen schmuggelte über Jahrzehnte hinweg subversives Gedankengut in Kinder- und Jugendzimmer, die Ahnung, dass Verweigerung etwas Positives sein kann und Arbeit, anders als die Elterngeneration predigt, alles andere als befriedigend, sondern ermüdend, anstrengend und nur mit auf dem Gastophon gespieltem Rock ’n’ Roll und einer Zigarette im Mund zu ertragen.
Dieser Text erschien zuerst in: Neues Deutschland
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.