Morgendrama

Das Mädchen Asa Asada ist ungefähr 12 Jahre alt, vorwitzig und mit einem großen Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet. Sie kommt aus einer kinderreichen Familie, was bedeutet, dass keiner so recht nach ihr schaut. Auf den ersten Seiten entdeckt sie im Kiez einen Dieb und will ihn stellen. Weil er stärker ist als Asa, entführt er sie kurzerhand.

Der erste Band der Mangaserie „Asadora!“ spielt Ende der 50er Jahre in Nagayo, im Süden von Japan, vor der Kulisse eines aufziehenden Taifuns. Allein die Bilder, die Naoki Urasawa dazu zeichnet, sind atemberaubend. Urasawa schafft es, dass in seinen Zeichnungen alles in Bewegung gerät. Wenn der Sturm über das Lagerhaus fegt, in dem Asa gefangen gehalten wird, dann scheint das nur vorübergehend Schutz zu bieten, so sehr zerrt der Sturm daran und peitscht das Meer dahinter auf.

Und Urasawa zeichnet mit Mitteln des Films. Wenn er die Zerstörungen zeigt, die der Taifun angerichtet hat, dann sieht man die überflutete Stadt in der Totalen – mit den überfluteten Dächern und all den Baumstämmen aus einem Sägewerk, die dagegen rammen.

Dann ganz nah das erschrockene Gesicht von Asa, halbnah die wackeligen Schritte über einen wüsten Haufen von Baumstämmen und dann die Vogelperspektive, in der man die Menschen sieht, die auf den Dächern um Hilfe rufen. Diese Perspektivwechsel zeigen das Ausmaß der Zerstörung in seiner ganzen Brutalität. Und zugleich ist das sehr fein gezeichnet, die Baumstämme sind akkurat schraffiert und wirken so sehr real. Normalerweise werden in Japan die Hintergründe und auch die Schraffuren solcher Baumstämme nicht vom Mangakünstler selbst, sondern von einem Zeichnerteam umgesetzt. Bei „Asadora!“ hat Naoki Urasawa das oft selbst übernommen.

Bild aus „Asadora!“ (Carlsen Manga)

Asadora bedeutet Morgendrama – so werden die japanischen Telenovelas genannt, die seit 1961 vormittags im Fernsehen gezeigt werden. Und tatsächlich hat Naoki Urasawa seine Figuren so holzschnittartig angelegt wie in einer Telenovela. Da ist der Entführer, der gar nicht böse ist, sondern ein Held in Not. Im Zweiten Weltkrieg war er Kampfpilot und hat alle Kameraden lebend nach Hause gebracht – und nach dem Krieg hat er nicht genug Geld, um eine Fluglizenz zu machen. Nach dem Taifun wird er wieder zum Helden, weil Asa ihn überredet, einen Hilfseinsatz für die Taifun-Opfer zu fliegen.

Oder der Sportler, der im selben Stadtteil wie Asa wohnt und für die Olympischen Spiele trainiert – und wenn Asa zum Spaß neben ihm rennt, ist sie erstaunlicherweise immer schneller als er. Es gibt also einige Charaktere, die Urasawa gegeneinander antreten lässt, wie in einer Telenovela – und daraus entspinnen sich immer neue Konflikte.

Naoki Urasawa ist unglaublich erfolgreich, seine Manga werden auf der ganzen Welt verlegt, er wurde mit den wichtigsten Preisen ausgezeichnet. Der erste Band von „Asadora!“ ist der Auftakt, dem noch fünf weitere Bände folgen, in denen Urasawa die Biografie von Asa bis in die Gegenwart erzählt.

Was auf jeden Fall deutlich wird: Die Zutaten, die Urasawas Manga bisher erfolgreich gemacht haben, gibt es auch in „Asadora!“. Das ist die kunstvolle Verschränkung von ganz unterschiedlichen Handlungssträngen, das Nebeneinander von Actionszenen und leisen Millieu- und Psychostudien. Und: dass Urasawa Realität mit Fiktion verschränkt und damit immer wieder an historische Konflikte rührt.

Den Taifun, den Asa da erlebt, gab es wirklich 1956, er war einer der verheerendsten in Japan. Dann der Läufer, der für die Olympischen Spiele im Jahr 1964 in Tokio trainiert. Das sind die ersten Olympischen Spiele, die in Japan stattgefunden haben, die Spiele, die im Jahr 1940 in Tokio geplant waren, wurden wegen des Zweiten Weltkriegs abgesagt. Das war für die Japaner so ein Trauma, dass es auch im Vorfeld der Spiele 2020 Angst vor einer Absage gab. Urasawa hat im Jahr 2018 mit seiner Serie angefangen – und er spielt schon im ersten Band darauf an, dass die Spiele nicht stattfinden können. Und genau dieses Spiel mit Realität und Fiktion macht auch „Asadora!“ spannend. Tatsächlich gab es 2020 wegen Corona keine Olympischen Spiele.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 02.02.2022 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Naoki Urasawa: „Asadora! Bd. 1“. Carlsen Verlag, Hamburg 2022. 208 Seiten. 12 Euro