„Ich wollte mich töten“, erinnert sich der französische Comiczeichner David B. in seiner autobiografischen Graphic Novel „Die heilige Krankheit“ an seine Jugend zurück. „Ich wollte alles Blut, das ich im Körper habe, ausströmen lassen. Alles käme endlich raus! Beklemmung, Angst, Gerechtigkeit, Wut … Ich könnte nur noch schlafen.“
In „Die heilige Krankheit“ erzählt er davon, mit einem Bruder aufzuwachsen, der unter einer schweren Form der Epilepsie leidet, und davon, wie sehr diese Krankheit bis heute das Familienleben bis in alle Facetten des Alltags bestimmt. Seine Schwester hat tatsächlich einen Suizidversuch hinter sich, er selbst hat im Comiczeichnen eine Rettung gefunden. Diese Bilder zeichnen sich dadurch aus, dass sie autobiografische Erinnerungen mit Darstellungen von Geistern, Monstern und Gespenstern anreichern, mit denen der Künstler in Dialog tritt. Die Erfahrung der Entfremdung, die David B. verspürt hat, wird auf diese Weise eindrucksvoll künstlerisch eingefangen. Dies ist seine ganz persönliche Strategie, mit den Kämpfen umzugehen, die Familien neben Geborgenheit und Vertrautheit auch auszeichnen können.
Mit dieser Strategie steht David B. nicht alleine; zahlreiche aktuelle Comics setzen sich künstlerisch mit Familienstrukturen und -geheimnissen auseinander. Nicht alle sind durch die Entfremdung von der Familie geprägt, und nicht alle sind so offen autobiografisch wie „Die heilige Krankheit“ – was sie eint, ist der Versuch, die ästhetischen Möglichkeiten des Mediums Comic zu erkunden, um dem Verhältnis des Individuums zu seiner Herkunft, seiner Familie eine künstlerische Form zu geben.
So zeigt Alix Garin in „Vergiss mich nicht“ in matten hellen Farben den Versuch der jungen Frau Clémence, die Familie mit allen Mitteln intakt zu halten und gegen das Vergessen der Vergangenheit anzukämpfen. Ihre Großmutter leidet unter Alzheimer, und Clémence nimmt sie gegen den Willen ihrer Mutter kurzerhand aus dem Pflegeheim auf einen Roadtrip zu ihrem Elternhaus mit. So entspinnt sich in Bildern, bei denen nicht immer klar ist, welche der Realität entstammen und welche der Fantasie von Clémence, ein langsam inszenierter Abschied, der einen neuen familiären Zusammenhalt über die Generationen hinweg erschafft.
Familie haftet hier trotz Krankheit etwas Leichtes und Unbeschwertes an. Stefan Hallers Comic „Schattenmutter“ ist das Gegenteil dessen. Auf Basis der Tagebücher seiner Mutter ergründet Haller, inwieweit sich ihre psychischen Probleme auf ihre Kinder übertragen haben und bis heute deren Leben bestimmen. „Noch immer stelle ich meine eigenen Bedürfnisse hintan, als Folge meiner Kindheit“, lässt Haller sein Alter Ego irgendwann denken. Er durchforstet die Tagebücher nach Indizien für die Ursachen der Probleme seiner Mutter – die Diagnosen reichen von Schizophrenie bis zu starken Depressionen -, liest Fachliteratur und führt Gespräche mit seinem Vater und seinen Geschwistern.
Während Stefan Haller dabei sehr auf die Fakten bedacht ist, die er vorfindet, ähnelt Mia Oberländers Debüt „Anna“ David B.s Vorgehen, Traum und Realität, Märchen und Fakten gleichberechtigt nebeneinander zu einer autobiografischen Reflexion zu verknüpfen. Die Hamburger Zeichnerin hat, lose an die Geschichte ihrer eigenen Herkunft angelehnt, ein Märchen produziert, das von drei Frauengenerationen erzählt, Anna 1, Anna 2 und Anna 3, die in einer Kleinstadt aufwachsen und dort wegen ihrer Körpergröße von der Norm abweichen. Oberländer inszeniert die Körper der Frauen, die unter der Beobachtung der Kleinstadtbewohner stehen, als groteske Karikaturen, die vor lauter Außenblicken nicht mehr wissen, wohin mit ihren langen Beinen.
Doch nicht nur die Blicke von außerhalb der Familie führen zu dem negativen Selbstbild der Frauen angesichts ihrer Körpergröße. Anna 1, die Großmutter von Anna 3, hat dieses Bild so sehr verinnerlicht, dass auch sie selbst, statt ihre Tochter und ihr Enkelkind so anzunehmen, wie sie sind, ihren Nachkommen vermittelt, mit einem Makel behaftet zu sein. So erzählt sie ihrer Enkelin ein Märchen von einem Mädchen, das gegen Gottes Willen zu groß ist und das daher Unglück bringt. Als sie erwachsen ist, wird sie verjagt, denn „es sind ja die Pflanzen, die in die Höhe schießen sollen, nicht die Kinder“.
Während hier die Enge einer Kleinstadt wie auch von Familienstrukturen in surrealen Bildern verdeutlicht wird, ist es in „The End of the F***ing World“ von Charles Forsman die gesamte Welt, die den beiden Protagonisten James und Alyssa feindlich gegenübersteht. Beide entstammen kaputten Familien, denen sie entfliehen, und bewegen sich durch eine trostlose Darstellung der USA, wo ihnen kurze Momente des Glücks begegnen, die schnell in Gewalt kippen. Der Comic wurde als Serie von Netflix verfilmt.
Alyssa kann schließlich, wenn auch unglücklich, in ihre Familie zurückkehren, doch James wird dies verwehrt. „Mit 17 schlug ich Dad ins Gesicht und stahl seinen Wagen“ bleibt die einzige Interaktion in einer Familienkonstellation, die ebenso trostlos und gewalttätig gezeichnet wird wie die gesamte Gesellschaft, die Außenseitern keinen Raum geben will.
Auf solche fehlenden Räume für Menschen, die sich nicht in die gesellschaftlichen Normen einfügen wollen, verweist der Leipziger Matthias Lehmann in seinem Comicdebüt „Parallel“, das die Lebensgeschichte des Großvaters seiner Lebensgefährtin nachzeichnet. Es sind die späten Vierziger und Karl versucht, gegen seine Homosexualität anzukämpfen. Er gründet eine Familie, von der er verstoßen wird, nachdem er sich wieder mit Männern getroffen hat. Familie zeichnet sich in „Parallel“ nicht durch Geborgenheit, sondern durch Bedrohlichkeit aus. Statt die Familienmitglieder so anzunehmen, wie sie sind, sind die Erwartungen der Familien, deren Weltsicht nach wie vor vom Nationalsozialismus geprägt ist, auf eine Zukunft ausgerichtet, die Familie, Kinder, Ordnung verheißt.
Wer nicht passt, wie Karl, wird ausgestoßen; erst in Leipzig, wohin es den gebürtigen Frankfurter für eine Weile verschlägt, versammelt er um sich eine eigene Familie aus sexuellen Außenseitern, bei denen er sich nicht mehr verstellen muss. Doch für solche selbst gewählten Familienstrukturen sind die Fünfziger noch nicht reif, auch dieser Zusammenhalt ist nicht von Dauer. Bei seiner Tochter Hella will Karl alles besser machen und öffnet sich ihr im hohen Alter in einem Brief, in dem er seine Entfremdung von der Familie zu erklären versucht. Die schwarz-weißen Aquarellzeichnungen Lehmanns fangen eindrücklich die Einsamkeit Karls ein, der sich nichts sehnlicher wünscht als eine Familie, in der sein darf, wie er ist.
Das Nachleben des Nationalsozialismus ist auch Thema im Comicdebüt der Berliner Illustratorin Bianca Schaalburg. In „Der Duft der Kiefern“ erzählt sie davon, wie vor dem Haus der Großeltern drei Stolpersteine verlegt wurden, die darauf hindeuten, dass die eigene Familie von der Zwangsumsiedlung der vorherigen jüdischen Bewohner profitiert hat, ganz entgegen den Behauptungen der Großmutter. Dem lückenhaften Familiengedächtnis, dem Verdrängen und Verschweigen entgegen setzt die Zeichnerin einen Fokus auf Fakten, Zahlen und Orte: Adressen werden exakt recherchiert, Reisebewegungen der Familienmitglieder genau wiedergegeben, Daten miteinander in Verbindung gebracht.
Solche Abgründe zeigt auch eindrücklich Glenn Head in „Chartwell Manor“, mit dem er den selbst erlebten sexuellen Missbrauch in einer Privatschule aufarbeitet, der sein Leben bis heute, Jahrzehnte später, prägt – Beziehungen, seinen Blick auf Sexualität ebenso wie das Verhältnis zu seinen Eltern. Im Comic zeigt er, wie er immer wieder versucht hat, das Thema des Missbrauchs in seiner Schule „Chartwell Manor“ den Eltern gegenüber anzuschneiden, doch ihre Reaktionen bleiben stets abwehrend: „Sieh mal, im Leben passieren Dinge, von denen wir uns wünschten, sie wären nie passiert. So ist das eben“, erklärt ihm etwa sein Vater.
In düsteren schwarz-weißen Zeichnungen in der Tradition des amerikanischen Underground-Comic der Sechziger zeigt Glenn Head seinen langen Weg zwischen dem Verdrängen und dem Leiden unter den Erinnerungen, bis es ihm schließlich gelingt, sich auf künstlerische Weise mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dabei schont er weder sich noch seine Familie.
Diese Schonungslosigkeit gegenüber der Familie, der sezierende Blick auf Strukturen der Enge und des Schweigens, auf Projektionen und Übertragungen, Überwachen und Strafen verbindet die hier vorgestellten Comics. Doch es gibt auch Hoffnung: Strukturen, die verletzen, können überwunden werden, seien sie familiär bedingt oder den Blicken der Umwelt geschuldet. Anna 3, die Protagonistin aus Mia Oberländers Comic, hat am Ende die einengenden Berge um das Dorf herum bezwungen: „Da sitzt sie nun, die große Anna 3, auf dem großen Gipfel, und sieht hinab ins Tal auf jene, die auf sie hinabgesehen haben. Wenn wir einen Berg bezwingen, können sich die Dinge ändern.“
Dieser Text erschien zuerst am 20.01.2022 in: ND
Jonas Engelmann ist studierter Literaturwissenschaftler, ungelernter Lektor und freier Journalist. Er hat über „Gesellschaftsbilder im Comic“ promoviert, schreibt über Filme, Musik, Literatur, Feminismus, jüdische Identität und Luftmenschen für Jungle World, Konkret, Zonic, Missy Magazine und andere, ist Mitinhaber des Ventil Verlags und Co-Herausgeber des testcard-Magazins.