Der Mensch ist Zaungast

© Crunchyroll / Sony / Wild Bunch

„Suzume“, Shinkai Makotos neuester Anime, erzählt von Japans traumatischen Erfahrungen mit Naturkatastrophen.

Es ist die Magie einer flüchtigen Bewegung, die in Shinkai Makotos neuem Anime-Meisterwerk „Suzume“ den Stein ins Rollen und die Plattentektonik unter Japan in Bewegung bringt: Eigentlich will die Titelheldin nur rasch zur Schule, da spricht sie dieser geheimnisvolle junge Mann auf der Straße an. Sota sei sein Name, und ob es denn in diesem malerischen Küstenstädtchen Ruinen gäbe. Tatsächlich gibt es da eine, irgendwo in den Wäldern, in den Bergen.

Suzume geht der junge Mann nicht aus dem Kopf, bald fasst sie sich ein Herz und radelt ihrerseits zu den Ruinen. Dort ist von Sota keine Spur — aber dafür findet sie eine geheimnisvolle Tür mitten auf einem Platz. Und die hat es in sich: Sie birgt den Ausblick auf eine fantastische Welt, wenngleich keinen Zutritt dazu. Einmal durch die Tür geschritten, ist man doch wieder nur in derselben langwei­ligen Gegenwart. Beim Versuch, das Rätsel zu ergründen, kommt es zum Äußersten: Suzume löst einen „Verschlussstein“, der sich als kleiner Gott in Kätzchengestalt entpuppt. Blöderweise hat es das niedliche Tierchen faustdick hinter den Ohren — prompt grollt der Boden und ein gigantischer Wurm, der Godzilla zum Lurch verzwergt, macht sich drauf und dran, die ­Insel Kyushu in Schutt und Asche zu legen. Nur dass ihn bis auf Suzume und den wieder aufgetauchten Sota niemand zu sehen scheint. Wer den Schlamassel anrichtet, muss ihn auch geradebiegen. Gemeinsam mit Sota, für den sich das Katzengöttchen eine besondere Gemeinheit ausdenkt, hetzt Suzume durchs Land, um Japan vor dem Schlimmsten zu bewahren.

Spätestens seit seinen internationalen Erfolgen „Your Name“ (2016) und „Weathering with You“ (2019) gilt Shinkai als Erbe Miyazaki Hayaos. Dass „Suzume“ von der gleichnamigen Präfektur Miyazaki auf der Insel Kyushu seinen Ausgang nimmt, darf man wohl als Ehrerbietung verstehen. Wobei Shinkais Filme technischer, urbaner ausfallen als das schwelgerisch melancholische, von Naturmystik durchsetzte Kino des großen Meisters des japanischen Animationsfilms: Suzume greift bei ihrem wilden Ritt durch Japan völlig selbstverständlich aufs Handy zurück, reist mit dem Shinkansen-Schnellzug und gibt sich nebenbei noch schrillen Teenie-Schwärmereien hin — bei Miyazaki empfände man all das als Misston. Shinkais Filme siedeln demgegenüber deutlich näher am Kulleraugen-Anime-Mainstream.

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Doch in Sachen emotionaler und mystischer Tiefe halten sie ­locker mit: Nach einem lange mysteriös bleibenden Prolog beginnt „Suzume“ zunächst wie ein Teenie-Film, erzählt aber bald von Verlust — Suzume verlor in jungen Jahren ihre Mutter und ist geplagt von der Erinnerung an eine letzte, rätselhafte Begegnung mit ihr. Und zugleich ist „Suzume“ angelegt als eine Trost spendende Meditation über Naturkatastrophen, von denen die japanische Insel aufgrund ihrer besonderen geologischen Lage immer wieder heimgesucht wird. In dieser Hinsicht entpuppt sich der Film als zutiefst japanisch: Am Ende — und was für ein mitreißendes Ende das ist! — machen übergeordnete Kräfte alles unter sich aus. Der Mensch ist Zaungast, dem Walten der Natur letztlich ausgeliefert und sich seiner Sterblichkeit seltener bewusst, als er es sollte. Aber, und das ist das Entscheidende: Die Natur ist eben nicht böse an sich — selbst das oft so kecke Katzengöttchen sucht eigentlich nur Liebe.

All das erzählt Shinkai in epischen, oft in wunderschöne Lichtreflexe getauchten Bildern. Und er lässt bei allem Pathos, aller dräuenden Gefahr immer auch Raum für Beiläufiges und Skurriles. Für eine Verfolgungsjagd zu ekstatischem Jazz etwa, die auf nichts Rücksicht nimmt, am allerwenigsten darauf, was unter einer Verfolgungsjagd gemeinhin verstanden wird — und die man auch nicht spoilern darf, weil man sie gesehen haben muss, um sie zu glauben.

In dieser Dynamik von Schicksalsschlag zu Alberei und zurück zeigt sich nicht zuletzt die tiefe Menschenfreundlichkeit, die Shinkais Filme auszeichnet. Die Erde ist schön, scheint er mit seinen magischen Bildern zu sagen, selbst wenn sie uns manchmal zu verschlucken droht. So ist sie eben. Machen wir das Beste draus.

Diese Kritik erschien zuerst in: StadtRevue 05/2023

Hier und hier gibt es weitere Kritiken zu „Suzume“.

Suzume
Japan 2022

Regie: Makoto Shinkai – Drehbuch: Makoto Shinkai – Produktion: Kôichirô Itô, Genki Kawamura – Musik: Kazuma Jinnouchi, Radwimps – Verleih: Crunchyroll Deutschland – Länge: 122 Min. – Kinostart: 13.04.2023

Thomas Groh, Jahrgang 1978, lebt seit 1997 in Berlin, ist Redakteur bei Deutschlandfunk Kultur und schreibt u. a. für die taz, den Tagesspiegel, den Perlentaucher und weitere Medien über Filme. Im Netz anzutreffen ist er in seinem Blog und auf Twitter.