Aufwachsen in Kolumbien

Das muss ein tropischer Virus sein, sagt einer der Ärzte, die Frau Gaviria wegen ihres aufgeblähten Bauchs konsultiert. Die indigene Maisverkäuferin sieht sofort, dass in diesem Bauch ein Baby wächst. Doch die Schulmediziner im kolumbianischen Quito sind sich sicher, dass das nicht sein kann, schließlich hat sich Frau Gaviria die Eierstöcke abbinden lassen. Die Schwangerschaft wird erst im 5. Monat entdeckt – und das Kind, das da im Bauch wächst, ist Paola alias „Powerpaola“.

Powerpaola fängt ihre Autobiografie mit der Befruchtung an. Oder besser mit dem Sex der Eltern, die diese Befruchtung möglich macht. Auf diese Weise zeigt sie schon auf der ersten Seite, dass es ihr nicht nur um sich selbst geht, sondern um das Beziehungsgeflecht, in dem sie aufwächst. Und das ist sehr südamerikanisch.

Dass der Vater ein konservativer katholischer Theologe ist und die Mutter eine Mystikerin, die übersinnliche Fähigkeiten hat und anderen Menschen die Zukunft aus Dominosteinen vorhersagt, mutet ungewöhnlich an. Und ist zugleich typisch, denn in Südamerika existieren unterschiedliche religiöse Vorstellungen friedlich nebeneinander. Dass die Familie trotzdem auseinanderbricht, hat viele Gründe. Zum Beispiel, dass die Schwiegermutter Frau Gaviria nicht leiden kann und immer wieder gegen sie intrigiert.

Bild aus „Virus Tropical“ (Parallelallee)

Der Comic zeigt auch, wie sehr die kolumbianische Gesellschaft schon in den Achtzigerjahren auseinanderdriftet. Da gibt es Familien wie die von Powerpaola, die zwar ein Hausmädchen haben und von diesem immer wieder übervorteilt werden. Die aber trotzdem nur so gerade ihren Lebensunterhalt bestreiten und den Kindern mit Mühe eine Ausbildung zahlen können. Und dann gibt es die Reichen, deren Kinder alles haben, was hip ist und die herablassend zu all jenen sind, die weniger haben. Die sozialen Unterschiede entladen sich immer wieder in Gewalt. In einer der Episoden erzählt Powerpaola zum Beispiel, wie sie in eine Schießerei gerät, weil sie im falschen Stadtviertel unterwegs ist.

All das zeichnet Powerpaola mit einem rüden Indipendent-Strich, der Gesichter verzerrt und die verbale wie handgreifliche Gewalt geradezu beiläufig wirken lässt. Zugleich sind viele der Zeichnungen so aufwendig schraffiert, dass Powerpaola klarmacht: Das Leben in solchen Verhältnissen verdient sorgfältige Betrachtung. Und: Allein durch den Zeichenstil schafft Powerpaola einen lakonischen Ton, der diesen Comic besonders macht.

Mit dem Comic „Virus Tropical“ zeichnet Powerpaola ein facettenreiches Bild von der kolumbianischen Gesellschaft – und zugleich ist der Comic eine feine Studie über Familienbeziehungen und das Heranwachsen eines Mädchens. Das macht den Comic universell. Da ist das Entdecken der eigenen Sexualität – und die sexuellen Wünsche der Jungs, die nicht immer zusammengehen. Powerpaola zeigt eindrücklich, wie schwierig es für ein Mädchen sein kann, die eigenen Wünsche zu erkennen und zu leben. Und sie zeigt, wie vital und unterstützend ein Familienleben sein kann – auch wenn die Eltern sich trennen. Auch wenn die eine Schwester sich immer wieder auflehnt und Drogen nimmt. Auch wenn die Schwester, die sich mit wohldosierten Ratschlägen um Powerpaola kümmert, ein eigenes Leben führen will.

„Virus Tropical“ ist ein sehr persönlicher Comic über das Aufwachsen im kolumbianischen Quito – und zugleich ein großer, leichtfüßiger Comic über das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen.

Dieser Beitrag erschien zuerst am 06.07.2022 auf: kulturradio rbb

Andrea Heinze arbeitet als Kulturjournalistin u. a. für kulturradio rbb, BR, SWR, Deutschlandfunk und MDR.

Powerpaola: „Virus Tropical“. Aus dem Spanischen von Lea Hübner. Parallelallee, Berlin 2022. 164 Seiten. 19 Euro