Später Reality Check

Irgendwo auf dem Land in Frankreich. Amédée und Jo, Nachbarn und beide schon betagte Rentner, sind seit Jahren befreundet. Und völlig unterschiedliche Charaktere. Jo ist unkonventionell, ein offenherziger Lebemann und Weltreisender, der überall etliche Abenteuer erlebt hat. Und Amédée, ehemaliger Notar, lebt seinen Ruhestand routiniert und langweilig. Wie auch die Frau an seiner Seite. Nur die packenden Erzählungen Jos, denen er so gerne lauscht, bringen Abwechslung und zumindest einen temporären Hauch von Abenteuer in sein Leben. Der sofort verschwindet, wenn er wieder vor seiner Haustüre steht. Dann stirbt Jo. Plötzlich und unerwartet. Und der Rentner Amédée stellt sich einer neuen Herausforderung: Da Jo angeblich einen Sohn hatte, versucht Amédée, den verschollenen Sprössling aufzutreiben, damit dieser Jos Erbe antreten kann. Man ist nie zu alt, um über sich hinauszuwachsen: Amédée tritt eine kleine Odyssee in den Nordosten Frankreichs an. Auf seiner Reise wird Amédée von Jo Harvey-mäßig begleitet, als imaginärer Beistand, der immer wieder lockere Sprüche und nonchalante Kommentare beisteuert. Visuell unterlegt sind die Trips mit virtuellen exotischen Tieren aus Jos Erzählungen, die die französischen Landschaften bevölkern. Ermutigt vom imaginären Jo lässt Amédée nicht locker, entwickelt ungeahnte Talente und entdeckt langsam sein Selbstbewusstsein wieder.

So ist der Band inhaltlich stets unterhaltsam, abwechslungsreich, witzig, überraschend und auch melancholisch. Quasi ein spätes Coming-of-Age eines Rentners. Während Autor Mark Eacersall bei uns noch nicht in Erscheinung trat, ist der Zeichner des Bandes kein Unbekannter: Sylvain Vallée prägte bereits mit seinem runden, fast funny-artigen Strich Reihen mit ernsten Themen: „Es war einmal in Frankreich“, zuletzt „Katanga“, ebenfalls bei Splitter erschienen.

In der Physiognomie seiner beiden Hauptdarsteller lässt Vallée deren Charakter widerspiegeln. Jo ist groß, schlank, selbstbewusst, elegant und weltgewandt, während Amédée klein und rundlich erscheint, samt Knubbelnase, zögerlich und in einer regelrechten Stasis zufriedener Unzufriedenheit versunken. Man gewöhnt sich eben an alles. In den Gesichtszügen seiner Figuren trumpft Vallée groß auf. Nuancenreich ist vor allem Amédées Mimik, die auch in Panelsequenzen stets gekonnt und präzise die Gefühlswelt des ehemaligen Notars abbildet, ob Freude, Trauer, Melancholie, Wut und Zorn oder Entschlossenheit. Ein schöner Band – auch für Freunde der „alten Knacker“ – voller feiner frankobelgischer Comickunst.

Dieser Text erschien zuerst auf: Comicleser.de

Bernd Weigand ist schon über vier Jahrzehnte in Sachen Comics unterwegs: lesen, sammeln, übersetzen. Schreibt auch seit 20 Jahren über Comics, seit 2010 auf comicleser.de.

Mark Eacersall (Autor), Sylvain Vallée (Zeichner): „Antananarivo“. Aus dem Französischen von Tanja Krämling. Splitter Verlag, Bielefeld 2022. 136 Seiten. 29,80 Euro