„Für viele Erwachsene ist die Bezeichnung Kinderbuch oft abschreckend“

Die Leipziger Illustratorin Josephine Mark zeichnet und veröffentlicht schon ihr halbes Leben lang Comics und Cartoons, aber erst 2018 hat sie beschlossen, ihren Brotjob an den Nagel zu hängen und Vollzeit-Comickünstlerin zu werden. 2021 veröffentlichte der Indie-Verlag Zwerchfell ihr Debüt „Murr“ – eine existentialistische Screwball-Comedy über einen üblen Western-Schurken, der sich mit seiner eigenen Sterblichkeit und seinem Gefühlshaushalt auseinandersetzen muss.

Beim Kibitz Verlag erschien kürzlich Marks zweites großes Werk: „Trip mit Tropf“ (hier Andrea Heinzes Kritik auf Comic.de). Auch wenn das Wort „Krebs” in diesem turbulenten All-Ages-Comic nie fällt, ist die Krankheit in der Erzählung und im Leben der Leipziger Zeichnerin ein wichtiges Thema. 2020, als sie die ersten Entwürfe anfertigte, war Josephine Mark mitten in der Chemotherapie. „Trip mit Tropf“ war im wahrsten Sinne des Wortes eine Flucht für sie, schließlich erzählt der Comic auch von einer wilden Flucht: Ein selbstbewusster Wolf und ein schwer krankes, verschüchtertes Kaninchen, das einen meterlangen Medikamentenplan und einen sperrigen Tropf mit sich schleppt, fliehen vor einem durchgeknallten Jäger. Marks Comic wurde im Juni 2022 sowohl mit dem Max und Moritz-Preis ausgezeichnet. Wir präsentieren das folgende Presse-Interview mit freundlicher Genehmigung des Kibitz Verlags.

Liebe Josephine, magst du uns eingangs ein bisschen über dich und deinen Comic-Werdegang erzählen? Wie bist du auf den Comic gekommen und was hat dich zu dem Medium hingezogen?

Als „Kind aus dem Osten“ habe ich natürlich mit „Mosaik“ begonnen. Nach der Wende waren es dann „Micky Maus“-Heftchen, die „Lustigen Taschenbücher“ und so weiter. Als Jugendliche habe ich eine Weile keinen wirklichen Bezug mehr zu Comics gehabt, bis ich irgendwann wieder auf den Geschmack gekommen bin. Und dann haben meine Eltern – besonders mein Vater – angefangen, mir jedes Weihnachten ein bis zwei Comics zu schenken. Das war sehr großartig, weil mein Vater richtig Arbeit in die Recherche gesteckt hat und ich so zu Büchern gekommen bin, die ich mir selbst vielleicht nie gekauft hätte. Von der Comicleserin zur Comicautorin bin ich über meine Cartoons gekommen, die ich seit ca. 2006 zeichne. Irgendwann wollte ich nicht mehr „nur“ Ein-Bild-Witze zeichnen, sondern richtige Geschichten mit Bildern erzählen. Das Tolle an Comics ist ja, dass sich sämtliche meiner Lieblingsmedien darin wiederfinden: ich liebe Filme und gute Geschichten, ich lese und ich zeichne gern.

Bild aus „Murr“ (Zwerchfell Verlag)

Du hast schon vor vielen Jahren angefangen, Cartoons und Comics online zu veröffentlichen, hast aber erst 2018 deinen Brotjob als Grafikerin aufgegeben, um dich Vollzeit als Illustratorin und Comickünstlerin zu verdingen. Wie kam es zu dieser Weichenstellung und was hat sich seither für dich und dein Leben geändert?

Ich hatte schon während meiner Anstellung begonnen, nebenher freiberuflich als Grafikdesignerin und Illustratorin zu arbeiten. Und irgendwann wollte ich das einfach zu meinem Hauptjob machen – auch, um mich neben den Kundenaufträgen stärker auf meine eigenen Projekte (die Comics und Cartoons) konzentrieren zu können. Mittlerweile läuft das ganz gut und ich bin sehr froh, den Schritt gegangen zu sein. Auch wenn ich mir natürlich wünschen würde, viel mehr Zeit für meine Comics zu haben und vielleicht den einen oder anderen Auftrag in Zukunft auch mal ablehnen zu können, um intensiver am nächsten Buch arbeiten zu können.

2021 ist dein Comic-Buchdebüt „Murr“ beim Indie-Verlag Zwerchfell erschienen. Darin erzählst du eine launige, existentialistische Cowboy-Mär über einen raubeinigen Halunken, der sich nach einer Nahtoderfahrung mit dem leibhaftigen Sensenmann und seinem eigenen Gefühlshaushalt auseinandersetzen muss. Was war der Ursprung von „Murr“ und warum wolltest du die Geschichte erzählen?

Die Story für „Murr“ habe ich für das Comiczeichnerseminar in Erlangen 2017 geschrieben. Ich war dort als Teilnehmerin dabei, geleitet wurde das Seminar von der wunderbaren Birgit Weyhe und Flix. Das Thema des Seminars lautete „Um die Ecke“ – da hatte ich sofort das Thema „Tod“ im Kopf und gleichzeitig war für mich durch die Formulierung der lakonische Grundton gesetzt. Ich musste also nur noch überlegen, wie ich das möglichst unkonventionell verpacke. Es geht bei „Murr“ ja eher um den Umgang mit Verlust und das Loslassen – da erschien mir ein raubeiniger Westernhalunke als der perfekte Protagonist. Ich arbeite grundsätzlich gerne mit solchen Gegensätzen und mag das Spiel mit Erwartungshaltungen. Vermutlich kommt das durch die langen Jahre als Cartoonistin. Humor speist sich ja sehr stark aus solchen Brüchen. Ich fand es eine interessante Variante, mich mit den doch eher schweren Themen Tod und Verlust auseinanderzusetzen.

Bild aus „Trip mit Tropf“ (Kibitz Verlag)

Mit „Trip mit Tropf“ erschien nun deine zweite buchlange Comicerzählung, diesmal eine rasante Fabel, die über Freundschaft, „found family“ und dem Umgang mit Krankheit sowohl von Betroffenen wie ihren Nächsten erzählt. Das Buch entstand zu einer Zeit, als du selbst mit einer schweren Krankheit zu kämpfen hattest. Magst du uns über die Entstehungsgeschichte des Comics erzählen? Wie kamst du auf die Story und warum wolltest du sie erzählen?

Die Idee für „Trip mit Tropf“ entstand wiederum für das Comiczeichnerseminar in Erlangen, zwei Jahre nach „Murr“, also 2019. Diesmal unter der Leitung der immer noch wunderbaren Birgit Weyhe und Ralf König. Am selben Tag, als die Zusage fürs Seminar kam, begann meine Krebstherapie. Das war schon ein irrer Zufall. Der Seminartermin lag dann mitten in meiner Chemo. Ich durfte aber trotzdem fahren, da bin ich meinen Ärztinnen immer noch total dankbar. Die Therapie zum Thema zu machen, bot sich dann irgendwie an. Es gab für mich ja nicht viele andere Themen zu dieser Zeit. Ich fand dann eine kleine Illustration von mir von 2015 – ein Wolf veranstaltet nachts im Wald einen geheimen Bastelkreis mit Kaninchen. Mit diesen Charakteren wollte ich gerne arbeiten. Die Ursprungsidee war, die Story komplett in einem Waldlazarett spielen zu lassen und all meine absurden, schönen oder verstörenden Therapie-Erlebnisse einmal mehr lakonisch zu verarbeiten.

Doch während der Anreise von Leipzig nach Erlangen wurde mir klar, dass ich an diesem Buch vermutlich die nächsten zwei Jahre arbeiten würde. Comicschreiben ist ja eine eher zeitaufwendige Sache. Ich wollte mich aber auf keinen Fall so lange und derart intensiv inhaltlich mit meiner Krebstherapie beschäftigen. Ich entschied mich also für Eskapismus und schrieb lieber einen Roadtrip. So konnte ich gemeinsam mit meinen beiden Protagonisten auf die Reise gehen durch alle vier Jahreszeiten in dieser atemberaubenden Natur. Aus diesem Grund ist es für mich selbst auch kein Buch über Krebs oder den Umgang damit. Der Begriff „Krebs“ fällt ja nicht einmal. Eigentlich ist es das genaue Gegenteil: die Beschäftigung mit dem Leben und allem, was einen noch so umtreibt, wenn man eigentlich nur in Ruhe seine Medis nehmen soll. Die Therapie des Kaninchens ist für mich weniger Thema des Buches als vielmehr Storytelling-Element, der treibende Faktor und der Rahmen für die Handlung: Das Kaninchen wird immer schwächer, die Jahreszeiten werden aufgrund der langen Dauer der Behandlung immer bedrohlicher und so weiter. Aber ich verstehe schon, warum „Trip“ auch als Mutmach-Buch gelesen werden kann und freue mich natürlich, wenn Betroffene oder Angehörige da etwas Positives für sich herausziehen können. Kürzlich hat eine Leserin es schön formuliert: „Es ist keine Geschichte über Krankheit, es ist eine Geschichte mit einer Krankheit.“ Das fand ich sehr treffend.

Was kannst du uns über deine beiden Protagonisten erzählen? Was zeichnet für dich ihre Persönlichkeiten und ihre Beziehung zueinander besonders aus? Gibt es Aspekte deiner eigenen Geschichte und Charakterzüge, die du in die Figuren des Kaninchens und des Wolfs eingeschrieben hast?

Wolf und Kaninchen sind einfach die beiden Hauptstimmen in meinem Kopf. Eine ist immer kurz vorm Nervenzusammenbruch und die andere interessiert das nicht die Bohne, weil: muss ja. Es war eine große Freude, die beiden in Form von Wolf und Kaninchen aufeinander loszulassen und ihre Dialoge zu schreiben. Und gleichzeitig wollte ich beiden Figuren die Chance geben, sich weiterzuentwickeln. Das Kaninchen bekommt also die Möglichkeit, mutig zu sein und der Wolf… na ja… irgendwie sozial kompatibel zu sein.

Bild aus „Trip mit Tropf“ (Kibitz Verlag)

Der Kibitz-Verlag empfiehlt „Trip mit Tropf“ ab 12 Jahren, mir selbst ist beim Lesen der Kampfbegriff „All Ages“ eingefallen, weil sich die Geschichte elegant klassischer Kinderbuch-Zuschreibungen entzieht. Hattest du ein Publikum im Hinterkopf, als du die Geschichte geschrieben hast?

Zielgruppen sind ja eher ein Thema für die Marketingabteilung. Ich halte mich lieber völlig frei von solchen Überlegungen, das führt nur zu Selbstzensur beim Schreibprozess… „All Ages“ klingt super für mich! Vor allem Kinder werden so oft unterschätzt, was die verträglichen Themen und ihr Verständnis komplexer Charaktere oder Geschichten angeht. Und auf der anderen Seite ist für viele Erwachsene die Bezeichnung „Kinderbuch“ oft abschreckend, weil man den Begriff mit „kindisch“ oder „wenig komplex“ assoziiert. Ich hatte „Trip“ zum Testlesen an ein paar Kinder in meinem Umfeld geben können, die alle weit unter 12 waren – die lieben das Buch! Sie verstehen sicher noch nicht alles, aber es gibt viele Elemente in der Story, wo sie total mitgehen können. Das war bei „Murr“ übrigens ähnlich. Und dort sterben z. B. wirklich viele Figuren… Ich hoffe also einfach, dass Eltern auch jüngerer Kinder sich trauen, das Buch gemeinsam mit ihren Kindern zu lesen. Und die Fragen, die vielleicht aufkommen, mit ihnen besprechen. Und ich hoffe, dass auch ältere, erwachsene Leser und Leserinnen das Buch entdecken. Mit oder ohne Bezug zu Krankheit.

Ein anderer wichtiger Aspekt deiner Erzählung dreht sich um Zugehörigkeit. Der „Lonely Wolf“ ist auf der Suche nach einem Rudel. Und ein Rudel, das können andere Wölfe sein oder ein krebskrankes Kaninchen, dem man aus der Patsche hilft. Am Schluss scheint es fast wichtiger, dass sich diese zwei Freunde getroffen haben, als dass das Kaninchen wieder gesund wird. Was hat dir dieser Erzählstrang bedeutet?

Die Persönlichkeit des Wolfes hat sich mir selbst auch erst während des Schreibens wirklich erschlossen. Dieser selbsterklärte „Lonely Wolf“ ist ja seinerseits auf einer Reise. Man merkt es nur nicht gleich. Ich habe auch lange nicht gewusst, was mit ihm eigentlich los ist. Im vorletzten Kapitel gibt es ja dann diese Schlüsselszene in der Höhle – ich spoiler jetzt mal nichts, aber wer das Buch gelesen hat, weiß, was ich meine. Das war jedenfalls ein sehr kniffliger Dialog und es war wirklich schwierig, die Antworten aus diesem Griesgram herauszuholen. Für diesen Teil hatte ich zum Glück Hilfe von Sonja Schlappinger, einer tollen Comiczeichnerin, die auch Kunst- und Traumatherapeutin sowie Mediatorin ist. Sie hat mir eine kleine Einführung in die konfliktsensible Gesprächsführung gegeben und dank ihrer Tipps habe ich den Wolf dann etwas aus der Reserve locken können. Er hat definitiv was zu verbergen… vielleicht muss ich da in einem späteren Buch noch mal genauer hinschauen.

Arbeitest du schon an deinem nächsten Projekt? Worauf dürfen wir uns als nächstes von dir freuen?

Ja! Diesmal wird es eine Krimikomödie – natürlich mit doppeltem Boden und natürlich mit zwei ziemlich gegensätzlichen Protagonisten. Das Script ist fertig, jetzt muss ich nur noch die Zeit und Ruhe finden, um endlich mit dem Zeichnen anfangen zu können.

Josephine Mark: Trip mit Tropf“. Kibitz Verlag, Berlin 2022. 192 Seiten. 20 Euro