Erst gestern mussten wir die traurige Nachricht von Raymond Briggs Tod schlucken, und heute folgt die Meldung, dass mit Jean-Jacques Sempé, Schöpfer des „kleinen Nick“, ein weiterer Fixstern der Zeichenkunst gestorben ist. Sempé starb am Donnerstagabend im Alter von 89 Jahren „friedlich“ und „umgeben von seiner Frau und seinen engen Freunden“, wie sein Biograf Marc Lecarpentier der Nachrichtenagentur AFP mitteilte. Vor zehn Jahren, anlässlich seines 80. Geburtstags, veröffentlichte sein deutschsprachiger Stammverlag Diogenes mit „Kindheiten“ eine opulente Werkschau. Thomas Wörtche hat seinerzeit die Besonderheit von Sempés Arbeit besungen.
Es gibt nur sehr, sehr wenige Kunstwerke und Autoren, von denen ich mir vorstellen kann, dass sie jemand nicht mag. Jean-Jacques Sempé, der 2012 80 Jahre alt wurde, gehört zu diesen kostbaren und raren Fällen.
„Kindheiten“ heißt der schöne Prachtband, den ihm (und uns Sempé-Abhängigen) seine Verlage Denoël und Diogenes zum Geburtstag ausgegeben haben, zusammen mit einem langen biografischen Interview, das Marc Lecarpentier mit dem Jubilar geführt hat. Und natürlich mit jeder Menge Bildern – bekannten und unbekannten –, mit Skizzen und Studien und ein paar interessanten Trouvaillen aus Sempés Frühzeit.
Betrachtet man die Bilder, so darf man getrost glauben, Sempés Kindheit und Jugend wären von einem milden, heiteren Sonnenglanz umgeben gewesen – näher an Gottfried Kellers Jugendgeschichten aus dem „Grünen Heinrich“ denn an den komplexen Grübeleien Marcel Prousts, obwohl Lecarpentier es nicht lassen kann, sein Vorwort mit dem Satz zu beginnen „Lange Zeit ist Jean-Jacques Sempé spät zu Bett gegangen“. Aber es ist schon richtig, Sempés Werk – in diesem Fall seine Sicht der Kindheit – bei den großen Kunstwerken dieser Welt einzuordnen, gerade weil sie so genial disparat einem bleischweren „Werk“-Begriff entgegenstehen.
Aber schön scheint seine Jugend in Bordeaux nicht gewesen zu sein. Als Kind armer Eltern, die sich zudem dauernd in der Wolle hatten, immer wieder umziehen mussten, es nie auf einen grünen Zweig brachten und denen es zudem der Romantik der Boheme gebrach. Aber immerhin Eltern, denen Sempé, wie er sagt, „alles verdankt“. Vermutlich eben auch den unendlich feinjustierten Blick auf die Welt – und auf die Kindheit. So wie sie war und wie sie gewesen sein könnte.
Und so versinken wir mit Sempé in ein Frankreich, das in den 50er-, 60er-Jahren stillzustehen scheint, in dem Plakate an Auftritte von Duke Ellington in der Salle Pleyel oder an Yves Montand im Olympia erinnern. Wir sehen den Tournee-Bus von Fred Adison durch die Provinz gondeln und treiben durch die zeitlosen Gassen von Dörfern, Kleinstädten und Stränden. „Kindheit“ ist, vor allem in den heiteren, luftigen, ätherischen Aquarellen, ein von keiner politischen Korrektheit getrübtes, hellauf begeistert krähendes Vergnügen von kleinen Mädchen und kleinen Jungs. Das Unbehagen an der Pubertät und den unglücklichen Körpern dieser Zeit zeichnet und aquarelliert Sempé genauso souverän und stoisch unkommentiert wie andere Zumutungen des Erwachsenwerdens: erste Liebe, das Angeödetsein von den Eltern, den pubertären Frust, den Drang zur Originalität, die manchmal grausamen, gleichgültigen Erwachsenen, das Staunen über die Welt…
Egal, ob seine Bilder eine Anekdote erzählen oder eine Pointe haben oder eine Stimmung fixieren, ein Lichtspiel, ein Tableau oder ein Panorama (kaum jemand kann Paris, die cité lumière, in solchen warmen Tönen malen wie Sempé, ohne dabei das Urbane zu verwischen) – erstaunlich bleibt immer, wie sehr Sempé hochkomplexe Verhältnisse (und Kindheit ist alles andere als einfach) auf den Punkt reduzieren kann. Selbst verstörende Situationen – wie der arme Klavierschüler, der misstrauisch in einem strengen, stylishen Interieur eine Poulenc-Partitur beäugt, die neben dem Telefon liegt und kein Klavierlehrer in Sicht –, selbst aus solchen Momenten der Unsicherheit, der Überforderung, des kindlichen Selbstzweifels holt Sempé noch Würde und Zuversicht.
Gelungenes und Richtiges
Sempé bezeichnet sich als Wesen von „untröstlicher Heiterkeit“. Untröstlich über den Lauf der Welt, heiter, weil man sonst nicht leben kann. Und so sind vor allem seine Sportskizzen, und da besonders seine Fußballbilder (die zeigen, dass er wirklich etwas von Fußball versteht), Manifeste einer robusten, aber dennoch stets eleganten Vitalität – für die Mädchen gibt es die entsprechenden Ballettbilder –, und über den Konservativismus dieser Dichotomie ist sich der Zeichner wohl bewusst.
Aber solche Theoreme, das stellt man immer wieder fest, wenn man Sempé betrachtet, über ihn nachdenkt und schreibt, spielen nicht die geringste Rolle. Seine Welt funktioniert ohne Begriffssysteme, seine mittels Zeichnungen und Bildern gewonnenen Einsichten formulieren begrifflich Unformulierbares, etwas immer Treffendes, Gelungenes und Richtiges. Man möchte fast sagen: etwas Weises. Meine Kindheit hat er bestens getroffen, so wie sie war und so wie ich sie mir gewünscht hätte und so wie sie vielleicht hätte sein können. Und das gilt, glaube ich, für so ziemlich alle Leute unserer Breiten. Wer, siehe oben, damit nichts anfangen kann, muss schon sehr spezielle Gründe haben.
Diese Kritik erschien zuerst am 15.08.2012 auf CulturMag.
Thomas Wörtche, geboren 1954. Kritiker, Publizist, Literaturwissenschaftler. Beschäftigt sich für Print, Online und Radio mit Büchern, Bildern und Musik, schwerpunktmäßig mit internationaler crime fiction in allen medialen Formen, und mit Literatur aus Lateinamerika, Asien, Afrika und Australien/Ozeanien. Mitglied der Jury des „Weltempfängers“ und anderer Jurys. Er gibt zurzeit das Online-Feuilleton CULTURMAG/CrimeMag und ein eigenes Krimi-Programm bei Suhrkamp heraus. Lebt und arbeitet in Berlin.