„Brring“ läutet es in Alan Turings Sakkotasche. „Teatime!“ ruft Turing und holt einen Wecker hervor. Der Mathematiker führt gerade zwei Reporter der „Times“ durch das National Physical Laboratory (NPL) nahe London. Sie wollen einen Bericht über die „Supermaschine“ schreiben, die dort unter Turings Leitung entwickelt wird. Es sind aber weniger die technologischen Pionierleistungen, die den Besuchern – und somit auch den Lesern der Graphic Novel „Turing“ – zuallererst ins Auge fallen, sondern vielmehr die Marotten Turings: Er kommt mit einer Gasmaske als Schutz gegen Pollenflug in sein Büro geradelt, trägt noch den Pyjama unter dem Anzug, hat seine Teetasse per Vorhangschloss an die Heizung gekettet und ziemlich offen ein Schwulenpornoheft zwischen seinen Dokumenten am Schreibtisch liegen.
„Meine Ideen teile ich gern, aber nicht meine Tasse“, sagt er zu den Reportern. Um ihnen dann seine Vision eines künstlichen Gehirns darzulegen: „Eines Tages werden Damen ihre Computer zum Spazierengehen in den Park mitnehmen und einander erzählen: ,Mein kleiner Computer sagte heute morgen etwas so Lustiges!‘“ Womit er vollkommen richtig lag.
Alan Turing (1912–1954) ist heute bekannt als Codeknacker der Nazi-Verschlüsselungsmaschine Enigma. Mit seinem Turing-Test zur Überprüfung der Intelligenz von Maschinen schrieb er Computergeschichte. Persönlich ging er daran zugrunde, dass er zu offen mit seiner Homosexualität umging – gleichgeschlechtliche Sexualität war im Großbritannien der 50er-Jahren strafbar. Turing zog eine desaströse Hormontherapie einer Gefängnisstrafe vor, was ihn letztlich in den Selbstmord trieb. Erst viel zu spät wurden seine Leistungen gewürdigt, erst 2013 wurde er rehabilitiert.
Der deutsche Illustrator Robert Deutsch legt in seinem großartigen Debüt-Comic „Turing“ Wert darauf, die vielen Schichten hinter dem Wissenschafter Turing freizulegen – und zeigt einen verletzlichen, schrulligen, hochintelligenten genauso wie kindlich-naiven Menschen. Episodisch rekonstruiert der opulente Hardcover-Band Schlüsselmomente, in denen wie nebenbei die Lebensgeschichte Turings aufgerollt wird: Die Kindheit als Sohn eines in Indien stationierten Beamten; die Schulzeit, während der er seine Liebe für die Naturwissenschaften entdeckte; die Begegnung mit dem jungen Liebhaber, der ihm letztlich zum Verhängnis wurde; die streng geheime Arbeit als Kryptoanalytiker in Blechley Park während des Zweiten Weltkriegs und die nachfolgende Entwicklung des Mark I-Computers. Dabei braucht Deutsch nicht viele Worte: Satte Farben, eine starke Bildsprache und eine außergewöhnliche Inszenierung saugen einen sofort in die Geschichte hinein und kreieren eine Atmosphäre, die irgendwo zwischen der Kunst eines Otto Dix und dem Comic-Avantgardisten Chris Ware liegt.
Weiche Gesichtszüge werden konterkariert von geradlinigen Architekturen, Räume werden aus der Vogelperspektive gezeigt und Gebäude wie Puppenhäuser aufgeschnitten. Die Anordnung der Panels kennt keine Gestaltungsgrenzen, einmal wechselt der Fokus wie von einer Filmkamera gelenkt, dann wieder bringen großzügige gemäldehafte Szenerien Ruhe zwischen minimalistisch gehaltene Dialogszenen und Illustrationen zu Turings wissenschaftlicher Arbeit.
Heraus kommt eine alles andere als trockene Comic-Biografie, angereichert mit frei gestalteten Sequenzen, die etwa albtraumhafte Vorstellungen Turings zeigen, die sich um den Kampf gegen ein Maschinengehirn drehen, genauso wie originell in Szene gesetzte Sex-Szenen. Zwischendurch schleichen sich immer wieder märchenhafte Elemente in die Erzählung ein, die sich darauf beziehen, dass Turing ein deklarierter Fan von Disneys „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ war. Als letzte Reverenz daran biss er in einen mit Zyankali vergifteten Apfel, um sich das Leben zu nehmen.
Diese Kritik erschien zuerst am 29.03.2017 auf dem „Der Standard“-Comicblog Pictotop.
Karin Krichmayr arbeitet als Wissenschaftsredakteurin für Der Standard. Außerdem betreibt sie für die österreichische Tageszeitung den Comicblog Pictotop.